Hagen. Lebenslange Haft oder Freispruch? Im NS-Prozess vor dem Landgericht scheint alles drin — denn Staatsanwaltschaft und Verteidigung liegen weit auseinander. Sicher ist: Am Mittwoch wird Siert B. (92) aus Breckerfeld zum letzten Mal im Schwurgerichtssaal erscheinen. Dann fällt das Urteil.

Die niederländischen Fernsehreporter sind gnadenlos. Öffnet sich die Fahrstuhltür im zweiten Geschoss des Landgerichts, sind sie schon da. Der schlohweiße ehemalige SS-Mann, den sie in seiner früheren Heimat „het Beest“ nennen, ist sofort umzingelt. „Das Tier“, erklärt der Dolmetscher, wäre eine viel zu freundliche Übersetzung, „die Bestie“ träfe es besser. Auf Zentimeternähe rücken die Kameraobjektive an Siert B. heran. Derweil versucht sich der 92-Jährige einen Weg durch die Meute zu bahnen. Er wirkt etwas tapsig.

Völlig unbeeindruckt scheint er dem holländischen Journalisten-Tross zu trotzen, der ihn aufdringlich bis zur Anklagebank begleitet. Der alte Mann kennt diese Szenen inzwischen, er hat sie in den vergangenen vier Monaten immer wieder erlebt. Gestern war der 21. Verhandlungstag im Prozess um einen mutmaßlichen Mord, der fast 70 Jahre zurückliegt. In der Nacht auf den 22. September 1944 wurde der niederländische Widerstandskämpfer Aldert Klaas Dijkema (36) auf einem verlassenen Fabrikgelände in Appingedam von hinten erschossen.

Sachliches Plädoyer

Siert B. behauptet, zur Tatzeit unbewaffnet gewesen zu sein. Sein damaligen Vorgesetzter August N. (1985 verstorben) hätte geschossen: „Ich lief rechts und der lief links neben ihm. Dann hörte ich den Knall, dann fiel der Mann.“

Verteidiger Klaus-Peter Kniffka hatte einen schweren Stand, doch er schlug sich gut, plädierte ausgesprochen sachlich und betonte vorweg: „In diesem Verfahren geht es nur um die individuelle Schuld meines Mandanten, nicht um das verbrecherische Regime als solches.“ Anwalt Kniffka bezeichnete Siert B., der zur Tatzeit 23 Jahre jung war, als „indoktriniert“ und „verblendet“. In der Sache selbst beantragte er einen Freispruch.

Prozess müsse durch Urteil eingestellt werden

Hilfsweise, so der Anwalt, müsse der Prozess unter dem Gesichtspunkt eines „fairen Verfahrens“ durch ein Prozessurteil eingestellt werden. Denn bereits 1949 war Siert B. in Abwesenheit von einem niederländischen Gericht zur Todesstrafe verurteilt worden – für die jetzt angeklagte Tat. Eine erneute Verurteilung verstoße gegen das „Verbot der Doppelbestrafung“, gegen die Europäische Grundrechts-Charta. Die Kammer solle die Akten dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegen.

Eine niederländische TV-Journalistin baut sich nach dem Prozess forsch vor dem Verteidiger auf: „Hat Ihr Mandant Angst vor dem Urteil?“ Kniffka trocken: „Ich habe ihn nicht danach gefragt. Aber wenn ich an seiner Stelle wäre, hätte ich Angst.“