Hagen-Breckerfeld. . Vor dem Landgericht Hagen beginnt am Montag einer der letzten NS-Prozesse in Deutschland. Des Mordes angeklagt ist der 92 Jahre alte Siert B. aus Breckerfeld im Ennepe-Ruhr-Kreis. Der gebürtige Niederländer soll im September 1944 einen Widerstandskämpfer in seinem Heimatland erschossen haben.

„Mein Mandant wird im Gericht erscheinen“, bestätigt der Hagener Rechtsanwalt Klaus-Peter Kniffka. Den Gesundheitszustand des 92-Jährigen beschreibt er als „den Umständen entsprechend normal“. Angesichts des hohen Alters waren im Vorfeld Fragen aufgekommen, ob überhaupt verhandelt werden kann. Ein medizinisches Gutachten bescheinigt Siert B., so Gerichtssprecher Jan Schulte, dass er pro Prozesstag bis zu drei Stunden verhandlungsfähig ist.

Internationale Aufmerksamkeit

Der Hagener NS-Prozess findet internationale Aufmerksamkeit. Selbst ein Mitarbeiter der altehrwürdigen Londoner „Times“ hat sich für einen der 25 Presseplätze im Schwurgerichtssaal akkreditiert. Alle großen niederländischen Tageszeitungen und Fernsehanstalten entsenden Reporter, Fotografen und Kameraleute nach Westfalen.

Dass sie zum Auftakt des auf elf Verhandlungstage angelegten Prozesses Erhellendes von dem Angeklagten zum Tatvorwurf erfahren, ist unwahrscheinlich. „Mein Mandant wird sich erstmal nicht zur Sache äußern“, sagt Anwalt Kniffka. Die vom Dortmunder Oberstaatsanwalt Andreas Brendel verfasste Anklageschrift wirft Siert B. vor, dass er als Angehöriger des deutschen Grenz- und Sicherheitspolizeipostens im niederländischen Delfzijl in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1944 den „arg-und wehrlosen“ Widerstandskämpfer Aldert Klaas Dijkema zusammen mit einem mittlerweile verstorbenen Mittäter „hinterrücks“ erschossen hat. Vier Schüsse sollen nahe einer Fabrik in Appingedam gefallen sein, wirft Brendel, „Leiter der Zentralstelle im Lande NRW für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen“, dem Angeklagten vor.

Jahrzehntelang lebte Siert B. unbehelligt als angesehener Bürger in Breckerfeld. Die Ermittlungen kamen nach einem Bericht im niederländischen TV und nach Recherchen des Politmagazins „Panorama“ ins Rollen. Reporter des NDR hatten Siert B. vor die Kamera bekommen. In dem TV-Beitrag im Juli 2011, so der NDR, soll der Breckerfelder erklärt haben, bei der Tötung Dijkemas dabei gewesen zu sein - aber nicht geschossen zu haben.

Veränderte Rechtsprechung

Dass Siert B. am kommenden Montag der Prozess gemacht wird, hat mit einer veränderten Rechtsprechung zu tun. Das Landgericht Aachen hatte 2010 einen einstigen SS-Hauptscharführer wegen Mordes an drei Niederländern verurteilt. Der Bundesgerichtshof hatte die Entscheidung bestätigt. Zuvor sahen die Gerichte die willkürliche Erschießung von Zivilisten bzw. Widerstandskämpfern nicht als Mord an.

In einem Prozess vor dem Landgericht Hagen 1980, in dem Siert B. wegen Beihilfe zum Mord an zwei jüdischen Brüdern eine siebenjährige Haftstrafe erhielt, war der Breckerfelder nicht wegen der Tötung von Aldert Klaas Dijkema verurteilt worden. Die Kammer hatte dem „Spiegel“ zufolge mit einer Verjährung argumentiert: Die Tat sei kein Mord gewesen, weil das Mordmerkmal der Heimtücke fehle - Widerstandskämpfer hätten mit ihrer Erschießung rechnen müssen.

Aufgrund eines „Führererlasses“ vom Mai 1943 galt der gebürtige Niederländer in der Bundes­republik als Deutscher. Deshalb scheiterte 1978 ein Auslieferungsersuchen der Regierung der Niederlande an die Bundesrepublik Deutschland.