Hagen. . Am 9. Januar 1979 wurde in Hagen Brunhilde Entz ermordet. Vor einigen Wochen konnte Dieter F., ein vorbestrafter Sexualstraftäter, der wegen eines anderen Frauenmordes seit 1980 eine lebenslange Haftstrafe absitzt, als mutmaßlicher Mörder ausgemacht werden.

Kann man einen Menschen, den man nicht kennt, hassen? „Wir haben sie Bruni genannt“, erinnert sich Jürgen Entz (55). „Bruni war unser Nesthäkchen.“

Er weiß noch, wie das Telefon klingelte in jener Nacht am 9. Januar 1979, und dass sein Vater am Apparat war und ihn bat, sofort vorbeizukommen. Polizei war da, und stückweise erfuhr er, was geschehen war, ein Unglück, seine Schwester sei verunglückt, hieß es, und dann war von Mord die Rede. Bruni ermordet. Der Vater war völlig durcheinander, das weiß Jürgen Entz auch noch, und dass die Polizei ihn bat, doch bitte schön mitzukommen ins Krankenhaus: „Zur Identifizierung, wissen Sie?“

DNS-Nachweis

Er sagt, er habe von Anfang an den Hass in sich gespürt.

Mehr als 32 Jahre ist es nun her, dass Brunhilde Entz (17) auf dem Heimweg aus dem „Pilssalon“, einer Kneipe am Bahnhof, überfallen und bestialisch ermordet wurde. Die junge Frau, Verkäuferin bei Tschibo, machte sich gegen 2 Uhr auf den Rückweg zum 900 Meter entfernten Zuhause. Wahrscheinlich verließ auch ihr Mörder, der eine Kneipe nebenan besucht hatte, um diese Zeit das Lokal. In Altenhagen muss er dem lebenslustigen Mädchen aufgelauert und es mit unbeschreiblicher Brutalität gequält und ermordet haben.

Als Passanten Brunhilde Entz um 2.25 Uhr unter einem Auto fanden, war sie gepfählt, ihr Unterleib regelrecht auseinandergerissen. „Der Täter wollte die Frau vernichten“, so Martin Erlmann (54), Leiter der kriminaltechnischen Ermittlungsstelle im Polizeipräsidium, der das Verbrechen 32 Jahre später anhand eines DNS-Nachweises auf der Hose von Brunhilde Entz aufklären konnte. Der Mörder war höchstwahrscheinlich Dieter F. (damals 35), ein vorbestrafter Sexgangster, der wegen eines anderen barbarischen Frauenmordes seit 1980 eine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis von Diez (nahe Limburg/Lahn) absitzt. „Ich gehe davon aus, dass er das Opfer überfiel, brutal missbrauchte und erwürgte“, so Oberstaatsanwalt Rahmer. „Die Leiche legte er unter einen VW Käfer.“

Das Verbrechen hatte ganz Hagen erschüttert

32 Jahre, in denen das Verbrechen, das damals ganz Hagen erschütterte, allmählich in Vergessenheit geriet. 32 Jahre – Helmut Schmidt befand sich seinerzeit auf dem Höhepunkt seiner Kanzlerschaft, die Jugend trug einen Schlag in der Jeans, der Trainer der Nationalmannschaft hieß Jupp Derwall. Und die Zeit, diese unerbittliche Erzieherin, schritt voran, es kamen die 16 Jahre der Kanzlerschaft Kohl und dann Schröder und Merkel, es kam die deutsche Einheit und die Anschläge vom 11. September, es kamen der Tsunami im Indischen Ozean und das Erdbeben in Japan – der ungesühnte Mord an Brunhilde Entz versank in der Vergangenheit. Nur in ihrer Familie war die Zeit stehen geblieben in jener Nacht des 9. Januar vor 32 Jahren, ihre Eltern und Geschwister konnten nicht vergessen: „Ach, was haben wir gegrübelt und uns mit der Frage gequält, wer wohl Brunis Mörder sein könnte“, sagt Jürgen Entz.

Er war das zweitälteste von vier Geschwistern. Wie alle in der Familie hing er an Bruni, weil sie so ein fröhlicher, lieber, hilfsbereiter, in sich ruhender Mensch war. „Bei uns stimmte die Chemie“, so Jürgen Entz. „Wir waren eine intakte Familie.“ Bis der Mensch, den sie nicht kannten, alle aus der Bahn warf. Jürgen Entz war Anfang 20 damals, ein impulsiver, kräftiger Mann, der in seiner Freizeit zum Boxen ging und so ziemlich jeden in seinem Bekanntenkreis verdächtigte, der Täter zu sein: „Ich habe versucht, etwas herauszubekommen. Ich wollte den Mörder finden.“ Stattdessen zerbrachen Bekanntschaften, weil ihm seine Freunde natürlich übel nahmen, wenn er sie unverhohlen nach ihrer Beziehung zu seiner Schwester befragte.

Und der wahre Täter saß ja längst im Gefängnis, als in der Welt das Leben weiterging, die Menschen in Hagen vergaßen und das innere Gleichgewicht einer Familie aus den Fugen geriet. Seine Mutter habe von allen am meisten gelitten, sagt Jürgen Entz: „Sie ist an Brunis Tod zerbrochen.“ Schließlich starb die verhärmte, verzweifelte Frau in geistiger Umnachtung.

Die anderen Familienmitglieder „berappelten“ sich, wie Jürgen Entz es nennt, er weiß selbst nicht so recht, wie es ihm gelang, einigermaßen in die Spur zurückzufinden, es brauchte seine Zeit, bis er eine eigene Familie hatte und nicht mehr ständig an das, was seiner Schwester angetan worden war, denken musste. Doch, er sei froh, dass der Mann endlich gefasst sei, sagt Jürgen Entz: „Und ich bin froh, dass Bruni wohl ein Zufallsopfer war. Es wäre schlimmer, wenn es ein Bekannter gewesen wäre, weil ich mir dann vorwerfen müsste, nicht energisch genug nachgeforscht zu haben.“

Er wird zur Verhandlung gehen, die Anfang 2012 eröffnet werden soll, um den Mörder seiner Schwester zu sehen. Bruni war das einzige Kind, das damals noch im Hause der Eltern lebte. Auf Fotos sieht die 17-Jährige jünger aus, sie wirkt fast kindlich, ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren und glatter Gesichtshaut. Eine Schwester, eine Tochter, die man lieb haben muss. Und man versteht, wie 32 Jahre vor­überziehen und die Zeit doch stehen bleibt, was es bedeutet zu vergessen oder vergessen zu können, und dass es eine rhetorische Frage ist, ob man einen Unbekannten hassen kann.