Hohenlimburg. Rico ist 39 Jahre alt. Er sitzt fast täglich vor einem Supermarkt in Hohenlimburg und bettelt um Geld. Das ist seine Geschichte:

Sein Gesicht kennen viele Hohenlimburger, die im Ort einkaufen gehen: Rico sitzt fast täglich vor einem heimischen Supermarkt und bettelt um Geld. Mit der Pandemie vor drei Jahren fing es an. Dabei ist Rico erst 39 Jahre alt und ist examinierter Krankenpfleger, wie er sagt.

Wie kam es, dass sein Leben so aus den Fugen geriet?

Fast täglich auf der Straße

An diesem Mittag scheint die Sonne so sommerlich warm auf den Asphalt vor dem Supermarkt, dass man kaum glaubt, schon den zweiten Oktober auf dem Kalender stehen zu haben. Vor dem Tag der Deutschen Einheit herrscht auf dem Parkplatz ein quirliges Treiben, wie es häufig vor Feiertagen ist. Autos parken ein, Autos parken aus, Mutter mit Kind schiebt den Einkaufwagen vor sich her, ein paar ältere Damen kommen mit Einkaufstüten aus dem Markt und gehen vorbei an einem Mann, der neben ihnen auf dem Boden sitzt.

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Kälte ist nicht schlimm

Rico scheint die Sonne ins Gesicht. Er zieht seinen Pullover aus, hat ein T-Shirt drunter. „Hitze ist immer schlimmer als Kälte“, sagt er. „Gegen Kälte kann man sich warm anziehen.“ Er weiß, wovon er spricht. Seit drei Jahren sitzt Rico fast täglich mehrere Stunden vor dem Supermarkt in Hohenlimburg und hofft auf ein paar Euros von Passanten. Er wirkt nicht aufdringlich, spricht niemanden an. Er sitzt einfach da, hat die Mütze wie einen Klingelbeutel vor sich ausgebreitet. Wer will, der kann ein paar Münzen oder Scheine hineinlegen.

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Dumme Sprüche

Heute sind nur ein paar Euros in der Cap. Drei von vier Passanten ignorieren ihn, schätzt Rico. Sie sind in ihrer Blase unterwegs, haben die eigenen Probleme und Aufgaben im Kopf. „Das ist normal, es ist im menschlichen Wesen so verankert“, sagt er. Ausreißer gibt es im Guten wie im Schlechten. Mal grüßt jemand freundlich, wirft Geld in die Mütze oder bietet sogar Essen an. Manchmal kommt wer und droht mit Gewalt oder wirft ihm einen Spruch entgegen wie „Geh doch arbeiten“, „Faule Sau“ oder sowas in der Art. Der 38-Jährige hat sich daran gewöhnt.

„Ich habe das früher auch über andere Leute gesagt“, gibt er zu. „Heute denke ich mir, du kennst mich nicht, und du kennst meine Lebensgeschichte nicht.“

Ausbildung in der Pflege

Wer Rico nach seiner Lebensgeschichte fragt, der bekommt zunächst von einem Weg erzählt, wie ihn zig junge Leute nehmen. Nach dem Schulabschluss habe er eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht. Er hat danach auch in der Pflege gearbeitet – einer Branche, die händeringend nach Personal sucht. „Ja“, sagt Rico, „aber die Leute werden in dem Beruf so verheizt, dass es keiner mehr machen will.“

Depressionen und Burnout

Er habe zu viel gearbeitet, zu oft genickt und ja gesagt, als es um Überstunden und Mehrarbeit am Wochenende ging. „Du bist voll motiviert, du willst arbeiten und merkst nicht, wie dich die Arbeit langsam krank macht.“ Es hat einige Monate gedauert, ein schleichender Prozess, dann war er ausgebrannt. Burnout. Depressionen. Körperliche Probleme. „Ich war nicht mehr in der Lage, mich zu kümmern.“

Einen Termin beim Psychiater zu bekommen, das habe Monate gedauert. In der Pandemie verlor er seine Wohnung, war ein Jahr obdachlos. Dann bekam er eine neue Wohnung, aber keine neue Perspektive.

Strafen wegen Schwarzfahren

Er ist oft schwarz gefahren, fuhr mit der Bahn zu seinen Eltern und zurück. „Ich habe mir Bahnlinien ausgesucht, wo ich wusste, da sind keine Kontrolleure – aber das klappt auch nicht immer.“ Die Strafe ging schließlich weit über das bekannte Strafgeld von 60 Euro hinaus. Denn je nach Verkehrsverbund werden schon Ersttäter nach dem Schwarzfahren angezeigt. Stichwort: Null-Toleranz-Politik. Stichwort: Abschreckung. Rico wurde ein paar Mal erwischt und angezeigt, so schildert er es.

3200 Euro Strafe

„Vier Mal Schwarzgefahren mit einer Strafe von jeweils 800 Euro“, beziffert er. Heißt: 3.200 Euro, die er Strafe zahlen muss. „Ich bin dabei, das Geld abzubezahlen“, sagt Rico. Deswegen sitze er Tag für Tag vor dem Supermarkt in Hohenlimburg und hofft auf ein paar Euro.

Verglichen mit der Zeit vor drei Jahren, als er damit anfing, liegen heute weniger Münzen in der Mütze. Steigende Preise für Lebensmittel, Strom, Heizung und Haushalt – die Leute halten ihr Geld zusammen. „Das merkt man schon“, sagt Rico. „Früher konnte man sich mal ein paar Euro zurücklegen, das geht heute nicht mehr.“

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Suche nach Betreuungsdienst

Er beziehe Bürgergeld, habe nach Abzug aller Kosten rund 150 Euro im Monat zum Leben, sagt er. Aktuell suche er nach einem Betreuungsdienst, aber auch hier seien Wartelisten lang. „Manche sagen auch, dafür sind sie nicht zuständig oder sie nehmen nur Leute mit angeborener Behinderung.“

Er will Erwerbsminderungsrente beantragen. Wer aus gesundheitlichen Gründen kaum oder gar nicht arbeitsfähig ist, den soll diese Rente unterstützen. In einem Fall wie bei Rico, der gerade 39 Jahre alt ist, wird geprüft, ob mit medizinischer Reha oder anderen Maßnahmen ein Weg zurück in das Berufsleben geebnet werden kann. Soweit die Theorie.

Zukunft ungewiss

Ob es so kommt, das steht noch in den Sternen. „Ich habe keine Ahnung, was meine Zukunft angeht“, sagt Rico, „aber ich hoffe, dass es irgendwann wieder klappt mit der Arbeit“.