Hagen. Tanja Oberließens Stand auf dem Weihnachtsmarkt brummt, trotzdem gibt sie „Socken-Seppl“ auf. „Das Publikum hat sich geändert“, sagt die Familie.
Tanja Oberließen ist im Stress. „Haben Sie die Socken hier auch in Schwarz?“, „Gibt’s die Kniestrümpfe auch eine Nummer kleiner?“, „Ich hätte gern diese Mütze, aber bitte mit Bommel.“ Tanja Oberließen arbeitet Anfrage für Anfrage ab, erfüllt nach Möglichkeit jeden Käuferwunsch. Doch nicht mehr lange. Am Freitag, 30. Dezember, gegen 20.30 Uhr schließt sie ihren Stand. Dann ist „Socken-Seppl“ nach 50 Jahren auf dem Hagener Weihnachtsmarkt Geschichte, und eine Ära geht zu Ende. „Man könnte auch sagen ,Ein Dinosaurier verlässt das Feld“, sagt Andreas Oberließen, Tanjas Vater, mit ein wenig Wehmut in der Stimme. Mit dem Dinosaurier meine er nicht sich persönlich, ergänzt der 70-Jährige, sondern er spiele auf seine ganze Familie an. Andreas Oberließens Frau Anneliese hat schließlich über 45 Jahre (bis zu ihrem Tod im Frühjahr 2018) den Kultstand auf dem Weihnachtsmarkt betrieben.
Warum jetzt Schluss ist mit dem Verkaufsstand in der Budenstadt? „Das Publikum hat sich gewandelt, und das nicht hin zum Besseren“, sagt Andreas Oberließen ohne Umschweife. Hinzu kämen Jugendbanden, die über den Weihnachtsmarkt streunen und Besucher und Schausteller beklauen würden, „und wir Standbetreiber werden oft auf übelste Weise beschimpft“, schüttelt der 70-Jährige resigniert den Kopf. Besonders für seine Tochter seien solche Verhaltensweisen nervenaufreibend, „sie fühlt sich regelrecht hilflos“. Tanja Oberließen nickt, bedient am Sockenstand aber routiniert weiter. „Ich steh’ hier schon länger an, ich bin jetzt an der Reihe“, sagt ein älterer Mann bestimmt, während zwei Jugendliche nach Fingerhandschuhen suchen. Das Geschäft brummt. So wirkt es zumindest.
Rückblick: Seit 110 Jahren betreibt die Familie Oberließen Markthandel mit dem Schwerpunkt Socken und Strumpfwaren. „Vor 50 Jahren sind wir auf dem Hagener Weihnachtsmarkt zum ersten Mal mit unserem Stand ,Socken-Seppl’ angerückt“, schaut Andreas Oberließen zurück. Anneliese Oberließen war Chefin des Standes, Andreas Oberließen und seine Tochter Tanja betrieben den Wurststand ein paar Meter weiter. „Unser Wurststand war berühmt für Panhast und Oma-und-Opa-Sülze“, erzählt der 70-Jährige stolz. Vor knapp fünf Jahren starb Anneliese Oberließen, Vater und Tochter gaben den Wurststand auf und kümmerten sich seitdem um den „Socken-Seppl“. „Vor drei Jahren brach’ ich auf dem Weihnachtsmarkt zusammen. Burn-out, ich konnte nicht mehr“, sagt Andreas Oberließen, „seitdem leitet Tanja den Betrieb, ich unterstütze sie nur noch dann und wann“.
Apropos Betrieb: „Das Besonders an unserem Geschäft ist, dass wir größtenteils deutsche Ware in heimischen Strickfabriken kaufen und weiterverkaufen“, sagt das Vater-Tochter-Gespann. Und was sind die Verkaufsschlager? „Unsere Hits sind Socken ohne Gummis, die sind venenfreundlich und können von Diabetikern gut getragen werden. Außerdem Strümpfe in Übergröße, also ab Größe 50 aufwärts.“
Eine Frage muss gestellt werden: Wer ist Socken-Seppl? „Als Junge bin ich immer in Lederhosen rumgelaufen und wurde deshalb von vielen Seppl genannt. Da lag der Name für unser Geschäft doch auf der Hand, oder?, schmunzelt Andreas Oberließen. Einen Stand auf dem Hagener Weihnachtsmarkt wird die Familie nicht mehr betreiben, aber Tanja Oberließen wird weiterhin auf Kirmes- und Krammärkten anzutreffen sein. „Wir wohnen in Iserlohn und bereisen einen Umkreis von 250 Kilometern.“
So wird die 45-Jährige auch künftig zum Beispiel auf dem Mariä-Geburts-Markt im Münsterland und auf der Allerheiligenkirmes in Soest ihre Socken und mehr verkaufen, „und während der Coronazeit hab’ ich einen Online-Shop aufgebaut. Der läuft mittlerweile ganz gut“, sagt Tanja Oberließen. Dem Hagener Weihnachtsmarkt kehrt sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge den Rücken, „alles hat seine Zeit“.