Hagen/Berlin. Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, im Interview: Über Hass im Netz, Klimaschutz und Hagens Probleme:
In Nachrichtensendungen und Talkshows ist er auf den Bildschirmen der bundesdeutschen TV-Sender regelmäßig zu sehen. Sein klare Positionierung zu medizinischen Themen macht den Notarzt zu einem gerngesehen Gesprächspartner, der es versteht, Fakten unaufgeregt auf den Punkt zu bringen. Janosch Dahmen ist jedoch nicht bloß gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, sondern vertritt für seine Partei aufgrund eines vorderen Listenplatzes auch engagiert den Wahlkreis Hagen/EN.
Eine Aufgabe, die den Berliner Familienvater angesichts der Distanz zumindest räumlich sehr fordert. Dabei ist er durchaus regelmäßig vor Ort und in den Themen der Region orientiert. Bei seinem jüngsten Besuch an der Volme schaute der Bundestagsabgeordnete in der Stadtredaktion vorbei und stellte sich zum Interview.
Gerade mit Blick auf die Coronazeit sind Politiker, die bei dem Thema klare Kante gezeigt haben, viel kritisiert worden. Wie haben Sie das erlebt?
Janosch Dahmen: Der Rollenwechsel aus der Medizin in die Politik war mit Veränderungen verbunden, ganz vorneweg mit der unterschiedlichen Wahrnehmung beider Berufe. Als Arzt gibt es da einerseits viel Wertschätzung. Da heißt es in der Regel: Gut, dass es Sie gibt, was für ein wichtiger Beruf. Als Politiker sieht es oft genau umgekehrt aus. Gesundheitspolitik steht sonst eher nicht im Rampenlicht. In der Coronazeit wurde es leider oft zum Kristallisationspunkt für Hass und Hetze. Ich habe das am Anfang noch versucht zu ignorieren. Aber als es angefangen hat, in die reale Welt überzuschwappen und es immer mehr Bedrohungen auch gegen meine Familie gegeben hat, ist es für mich sehr schlimm geworden. Öffentliche Auftritte müssen inzwischen hinsichtlich meiner Sicherheit vorabgestimmt und geplant werden. Das sowas mal passiert, hätte ich niemals gedacht.
Denkt man in so einer Situation nie darüber nach, den Job wieder an den Nagel zu hängen?
Ich habe mich immer wieder gefragt und tue das auch bis heute, was das für mein Umfeld bedeutet. Wir hatten eine Situation, da waren wir als Familie im Wald spazieren, als plötzlich Autos vom Landeskriminalamt vorgefahren kamen, weil uns vorher Menschen gesehen und unseren Standort in einem Chat gepostet hatten. Dabei stand: „Wäre eine gute Gelegenheit, dem einen Denkzettel zu verpassen.“ Da haben die Kinder sich sehr erschrocken. Das waren beispielsweise Punkte, wo ich sehr gehadert habe.
Bedeutet das für Sie in der Konsequenz, dass Sie sich aus dem Medienrummel etwas zurückziehen und – um auf Hagen zu kommen – wieder mehr Zeit im Wahlkreis verbringen?
Ich habe bewusst seit dem Sommer meine Medienarbeit deutlich reduziert. Ich habe mich seitdem voll auf die Inhalte konzentriert, und darauf, mich bestmöglich in die Gesetzgebungsprozesse einzubringen und mich den Themen im Wahlkreis zu widmen.
Wie oft sind Sie tatsächlich hier im Wahlkreis unterwegs?
Ich versuche, regelmäßig in den sitzungsfreien Wochen herzukommen. Allerdings haben wir in meinem Bereich – der Gesundheitspolitik – jetzt auch die Situation, dass wir uns zuletzt überwiegend um die Pandemiebekämpfung kümmern mussten und den eklatanten Reformstau im Gesundheitswesen erst jetzt mit vollem Einsatz angehen können. Das bedeutet, dass wir regelmäßig auch außerhalb der Sitzungswochen wichtige Reformgesetze beraten müssen.
Sie haben das Privileg, ein bisschen mehr von außen auf diese Stadt zu blicken. Dabei sind Sie sicherlich in gewisser Weise davon geprägt, was die Kreispartei oder Ratsfraktion Ihnen an Themen spiegeln, aber wie nehmen Sie persönlich eine Kommune wie Hagen wahr?
Ich finde – im Guten wie im Schlechten – Hagen ist in besonderem Maße exemplarisch für die Herausforderungen vor denen das Land, aber auch Nordrhein-Westfalen oder das Ruhrgebiet stehen. Wir haben die höchste Arbeitslosenquote, die höchste Quote an Kinderarmut, einen großen Reformstau an Infrastruktur. Man betreibt hier vor allem Mangelverwaltung, weil die Schulden so hoch sind. Bei vielen Themen habe ich das Gefühl, dass die Richtung stimmt. Aber die Geschwindigkeit ist viel zu langsam gemessen an dem Berg an Problemen. Das ist auch das, woran ich mich in der Politik am wenigsten gewöhnen kann, meine Betriebstemperatur bleibt einfach Blaulicht.
Sie haben das Thema Altschulden selbst angesprochen. Das Thema ist längst erkannt und es gibt so viele Städte in dieser Republik, die es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen können, schuldenfrei zu werden. Warum kann man sich da nicht konsensual an einen Tisch setzen und diesen Knoten durchschlagen?
Ich bin jetzt ehrlicherweise hoffnungsvoller, als ich das vor der letzten Bundestagswahl war. Das liegt daran, dass sowohl im Koalitionsvertrag in Berlin als auch im neuen in Düsseldorf überhaupt erst einmal das Thema Altschuldenfonds als ein Ziel benannt wurde, das angegangen werden soll. Und das ist nicht nur auf Papier geschrieben, sondern ich weiß, dass die Finanzministerien sehr konkret darüber verhandeln.
Es ist aber bislang nicht im NRW-Haushalt 2023 hinterlegt...
In der Etatisierung ist es ja nicht so, dass man sagt, man stellt dafür Haushaltsmittel zurück, um dann Schulden zu bedienen. Es muss außerhalb der Haushalte ein Entschuldungsprogramm geben. Mein Kenntnisstand ist, dass Bundes- und Landesfinanzministerium dazu bald einen Plan vorlegen wollen. So weit waren wir noch nie.
Sie haben gerade das Thema Geschwindigkeit angesprochen. Das ist auch ein Hagener Problem. Beispiel: Es ist zwar jetzt eine Solar-Offensive angekündigt, aber innerhalb von mehreren Jahren ist es der Stadt nicht gelungen, Solaranlagen auf öffentlichen Gebäuden einzurichten. Haben Sie das Gefühl, dass Grüne Politik - auch mit Blick auf die eingeschworene Allianz – gar keine Rolle in dieser Stadt spielt?
Ich habe großen Respekt vor all denen, die hier vor Ort Verantwortung tragen und mit den schwierigen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, schauen müssen, was sich wie überhaupt umsetzen lässt. Damit kann man sie aus bundespolitischer Sicht nicht alleine lassen.
Es ist viel zu einfach, zu sagen, ein Oberbürgermeister, oder einzelne Fraktionen kriegen das nicht hin – wenn wir nicht jenseits der Schuldenfragen auch über Förderprogramme Ressourcen zur Verfügung stellen, die strukturell schwache Kommunen in die Lage versetzen, flächendeckend und substanziell die Probleme in Angriff zu nehmen.
Hagen hat im letzten Jahr zweimal einen dramatischen Weckruf erfahren. Einerseits durch den Ukraine-Krieg, der den Blick von einem Solarmodul auf dem Dach – was sicherlich nett und schön ist – auf die kritischen Infrastrukturen und Energiekosten gelenkt hat. Andererseits ist durch die Flutkatastrophe deutlich geworden, dass wir den Klimaschutz mit Priorität angehen müssen.
Es gibt Prognosen, dass die Hitzetage künftig massiv steigen werden, gerade auch in besonders dicht bebauten Gebieten wie Wehringhausen. Auch Hochwasserschutz muss doch ein Thema sein, das ihre Fraktion noch viel stärker beschäftigen müsste. Was braucht Hagen, um sich da zukunftssicher aufzustellen?
Neben einer energetischen Sanierung muss die Weise der Energieerzeugung Thema sein. Hagen muss eine komplette ökologische Transformation voranbringen. Die Stadt ist durch die geografische Lage mit den Zuflüssen, großen Hängen und der Bewaldung sehr exponiert und muss ganz eindeutig Schwammstadt werden. Flächen müssen entsiegelt, Fassaden und Dächer begrünt werden. Der Mammutlauf wird hier der Umbau der Infrastruktur.
Das hört sich alles so theoretisch an. Dann werden erst wieder Konzepte ausgearbeitet, diskutiert und beschlossen. Dauert das nicht alles viel zu lange?
Da kann man mit Ja und Nein antworten. Wir sind in Berlin überzeugt, dass wir Verfahren radikal entbürokratisieren müssten. Da arbeiten wir dran. Beispiel: LNG Terminal „Neptune“. Wenn man Beschleunigung will, ist das – wie man an dem Projekt sehen kann – möglich. Das brauchen wir auch für Wohnungsbau, Radwege-, Schienenbau, oder den Neubau beispielsweise besonders grüner und nachhaltiger Krankenhäuser oder Schulen – also überall dort, wo aufgeholt werden muss.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für Hagen in den nächsten Jahren?
Mich beschäftigt insbesondere die Kinderarmut, die Arbeitslosigkeit, die Herausforderungen bei der Integrationspolitik und der Wandel von einer klassischen industriellen Stadt hin zu einem lebenswertem Ort – wo Radfahren ohne Angst möglich ist, die Kinder zu Fuß zur Schule laufen – und die Leute nicht mit Sorge auf die Entwicklung der Stadt schauen, sondern froh sind, hier zu leben.
Stichwort Krankenhäuser: Die Pandemie hat offengelegt, dass es im Gesundheitsbereich massive Personalengpässe gibt. Was ist da als Entlastung für die Städte geplant?
Zunächst einmal ist es für die Krankenhäuser ein riesiges Problem gewesen, dass die Energiekosten sich so rasant entwickelt haben, dass die Krankenhäuser absehbar in nächster Zeit nicht mehr in der Lage gewesen wären, ihr Personal zu bezahlen, wenn der Bund nicht mit 8 Milliarden eingesprungen wäre, um die Zahlungsfähigkeit zu erhalten. Das ändert an der Not zunächst nichts, verhindert aber, dass uns nach der Pandemie ausgerechnet Krankenhäuser pleite gehen.
Zum Fachkräftemangel: Wir haben über Jahre versäumt, insbesondere im pflegerischen Bereich Personal selbst auszubilden. Hinzu kommt eine doppelt negativ wirkende demografische Entwicklung: Immer mehr Senioren, gleichzeitig wird das Personal immer älter und geht in Rente. Das können wir nur mit einer sehr offensiven Integrations- und Einwanderungspolitik hinbekommen.
Ist das nicht auch eine Sache der Bezahlung und Wertschätzung? Jetzt gab es ja Ärger – es gab auch einen Brandbrief einer Hagener Klinik – rund um den Corona-Bonus. Warum erhalten diese Wertschätzung nur einige? Ist das nicht ungerecht?
Ich glaube, die Bezahlung ist besser als sie hinlänglich angenommen wird. Wir erleben sehr stark, dass Anerkennung und Bezahlung nicht mehr alles sind in dem Sektor, sondern es vor allem stark davon abhängt, wie konkret junge Menschen ihren Arbeitsalltag gestalten können.
Es muss künftig andere Arbeitsmodelle geben, als um 6 Uhr anzufangen und bis spätabends durchzuarbeiten. Es muss Sonderregeln geben. Und einen Anspruch auf Teilzeit-Arbeit. Zuletzt zum Corona-Bonus: Ich hätte mir gewünscht, dass der Topf größer gewesen wäre. Jetzt kann man streiten, ob das im Einzelfall immer richtig war. Aber letztlich fiel die Entscheidung so aus, weil die Intensivstationen sicherlich noch mal im extremen Maße belastet waren.