Hagen. Ein Roadtrip zur Nordsee wird für Jugendliche der Förderschule Fritz Reuter aus Hagen zum Abenteuer. Erzählungen von einer besonderen Reise.
In fünf Tagesetappen radelten sechs Schüler der Förderschule Fritz Reuter aus Hagen-Boelerheide über 220 Kilometer quer durch Ostfriesland zur Nordsee. Sie übernachteten in Zelten, erlebten Vertrauen und Gastfreundschaft, Anstrengung und Herausforderung. „Es war eine Zeit voller Bewegung“, so Schulleiter Stefan Grade, der die Schüler begleitete: „Die Schüler konnten über sich hinauswachsen, gemeinsam ein Abenteuer erleben, Zuneigungs- und Solidaritätserfahrungen machen, Durchhaltefähigkeiten und Organisationsfähigkeiten einüben.“
Doch so lebensfroh die Bilanz des Roadtrips, der aus Mitteln des Programms Extra-Geld finanziert wurde, auch ausfiel, war er doch eine Ausnahmeerscheinung in schwierigen Zeiten, mit denen sich Schüler aus sozialen Notlagen seit Corona, spätestens jedoch seit dem Ukraine-Krieg und der Energie- und Preiskrise konfrontiert sehen. „Die Folgen von Corona sind längst nicht überwunden“, sagt Grade: „Und die gesellschaftliche Unsicherheit schlägt sich auf das Verhalten unserer Schüler nieder.“
77 sprechen zu Hause nicht Deutsch
Von den 235 Schülern der Fritz-Reuter-Schule sprechen 77 zu Hause nicht Deutsch, berichtet der Schulleiter. Nicht nur für diese Gruppe, aber vor allem für sie hätten die monatelangen Schulschließungen während der Pandemie 2020 und 2021 verheerende Auswirkungen gehabt: „In dieser Zeit haben viele überhaupt nicht Deutsch gesprochen. Sie hatten kaum soziale Kontakte. Sie wurden völlig abgehängt, und das kann man nicht einfach so wieder aufholen.“
Ihr Hauptaugenmerk legen die Lehrer der Fritz-Reuter-Schule deshalb auf Grundlagen des Lernens und menschlichen Zusammenlebens, auf Zuverlässigkeit, Kontinuität, Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit sowie Respekt. Fachliches Lernen, etwa Lesen, Schreiben und Rechnen, könne erst gelingen, wenn diese Grundlagen angebahnt seien, so Grade.
Daher seien Programme wie die „Challenge-Projektwoche“, in deren Rahmen u.a. die Tour zur Nordsee stattfand und die aus Landesmitteln („Ankommen und Aufholen nach Corona“) finanziert wurde, ungemein wichtig: „Für viele unserer Schüler ist die Schule der Ort in ihrem Leben, an dem es schön ist.“
Zu wenig Männer in den Kollegien
Seine Forderung: Das Land sollte den Schulen stetig Geld zur Verfügung stellen, das diese nach eigenem Ermessen für pädagogische Projekte einsetzen können: „Die Förderung muss verstetigt werden, und zwar dort, wo es nötig ist. An Gymnasien braucht es keine Aufbauprojekte, an Förderschulen schon.“
Natürlich stelle auch der Lehrermangel an den Schulen ein Problem dar. Dabei hebt Grade nicht auf seine eigene Lehranstalt ab, an der Fritz-Reuter-Schule seien alle Stellen besetzt: „Wir sind aber eine Ausnahme.“ Was aber alle Schulen dringend bräuchten, seien mehr männliche Kollegen. Es sei ihm ein Rätsel, wieso sich immer weniger Männer für diesen so erfüllenden Beruf entscheiden würden: „Unsere männlichen Schüler lechzen nach Vorbildern, sie wollen und müssen geführt werden.“
Starke wirtschaftliche Belastung der Familien
Gerade Jungs aus zugewanderten Familien, die ja häufig aus archaischen Verhältnissen stammten und sich stark an Männern orientieren würden, suchten nach Vorbildern, an denen sie ihre Identität auspendeln könnten: „Sie wollen nicht ständig etwas problematisieren.“
Auf der anderen Seite müssten sich natürlich auch Lehrer und Lehrerinnen auf diese Schüler einstellen: „Natürlich gefällt mir das nicht, wie sie leben, aber ich muss ja damit umgehen können.“ Er hoffe, dass man ihn nicht falsch verstehe, so Grade: „Ich habe nichts gegen Frauen als Lehrerinnen, im Gegenteil. Aber es fehlen halt die Männer.“
Die Kinder sind die Hauptleidtragenden
Was ihm derzeit vor allem Sorgen bereitet, ist jedoch die starke wirtschaftliche Belastung vieler Familien infolge der Inflation. Gerade bei Kindern, die ohnehin emotional unterversorgt seien, mache sich die Teuerung bemerkbar: „Wir stellen in der Schule Obst zur Verfügung. Sie reißen es uns aus den Händen.“ Er wolle die Vokabel „ausgehungert“ vermeiden, so Grade: „Aber dass viele unserer Familien sich Sorgen darüber machen, wie sie über den Monat kommen sollen, das kriegen wir in der Schule mit. Die Anspannung ist groß.“
Das nächste Entlastungspaket, so denn die Bundesregierung ein weiteres auf den Weg bringe, müsste den Schulen zugute kommen: „Zum Beispiel den Schulen in Hagen, Gelsenkirchen und Duisburg. Damit die Schüler auch hier Chancen erhalten.“