Hagen. Auf Besuch in Hagen: Was hat Henri Matisse in Hagen gemacht? Und warum hat er sich später in Paris so schockiert darüber ausgelassen?

Der französische Maler Henri Matisse gilt heute als einer der bekanntesten Vertreter der klassischen Moderne. Deshalb mag der Kulturfreund rückblickend denken, der Hagener Kunst-Pionier Karl Ernst Osthaus habe um die Jahrhundertwende bereits einen Trend bedient, als er in Paris die ersten Bilder des Künstlers erwarb. Tatsächlich ist es umgekehrt. Das Ehepaar Osthaus verhilft Matisse zum Erfolg, ja ermöglicht seine Arbeit als Maler in gewissem Maße erst.

Zwischen 1900 und 1905 durchlebt der spät berufene Matisse eine existenzielle Finanzkrise. Aber im Frühjahr 1906 bereist ein junges, reiches Ehepaar aus der in Paris gänzlich unbekannten Stadt Hagen die französische Metropole. Gertrud Osthaus spricht besser Französisch als ihr Mann, sie wird als Übersetzerin die Kontakte zu den Künstlern gepflegt haben. Die Osthausens besuchen Matisse vermutlich in seinem Atelier am Quai Saint-Michel, darauf deutet eine Widmung „à Madame Osthaus – hommage respectueux Henri Matisse“ auf einem gezeichneten hockenden Frauenakt hin. Später im Jahr lernen die Hagener den Maler dann nachweislich im Salon der Geschwister Stein persönlich kennen.

Mosaik für den Hohenhof

Hat Karl Ernst Osthaus seine ersten Ankäufe französischer Künstler noch unter der Anleitung zum Beispiel Henry van de Veldes getätigt, so ist Henri Matisse eine selbstständige Entdeckung des Sammler-Ehepaares. Osthaus erwirbt bereits bei der ersten Begegnung Handzeichnungen und beauftragt den Maler mit dem Entwurf eines Fliesentriptychons für den Wintergarten der im Bau befindlichen Villa Hohenhof, an dem Matisse bis 1908 arbeiten wird.

Im Jahr 1907 erwirbt Osthaus auch die ersten Gemälde von Matisse und bringt sie dem Hagener Publikum durch einen Artikel in der Hagener Zeitung nahe; in Berlin hingegen bleibt Matisse vorerst erfolglos, so dass Hagen neben dem Salon der Geschwister Stein als Sprungbrett für den Künstler dient. Das Folkwang-Museum erhält sogar einen eigenen Matisse-Saal.

Der modernste Künstler

Im Mittelpunkt der Sammlungs-Aktivitäten steht 1908 ein schockierend modernes Gemälde des „modernsten der modernen Künstler“, wie der Fotograf Edward Steichen Matisse bezeichnet. Es soll 3000 Francs kosten, wird Osthaus aber mutmaßlich billiger abgegeben. Zum Vergleich: Heute erzielen Werke von Matisse Auktions-Erlöse von 70 Millionen Euro. Es handelt sich um das weltberühmte Bild „Badende Frauen mit Schildkröte“.

Im Januar 1909 legt Henri Matisse auf der Rückreise von Berlin nach Paris einen Zwischenstopp in Hagen ein, um endlich das Folkwang-Museum zu besichtigen und Osthaus zu treffen. Der Besuch verläuft irritierend. Osthaus zeigt dem Franzosen das neue, noch nicht eröffnete Krematorium von Peter Behrens. Es handelt sich um das erste Krematorium in Preußen. Gegen ein Eintrittsgeld von 50 Pfennigen können die Hagener die technische Ausstattung besichtigen, und sie strömen in Scharen herbei; besonders fasziniert der Katafalk mit einem leeren Sarg, der sich auf und ab bewegen lässt.

Schreck im Krematorium

Darauf ist Matisse nicht vorbereitet. Sein Agent Hans Purrmann, der ihn begleitete, erinnert sich. Osthaus wollte „Matisse sein in ödester Fabrikgegend neuerbautes Prachtkrematorium zeigen. Es war an einem Sonntagnachmittag, es regnete, der halbgefrorene Boden war kaum zu begehen. Dennoch drang Osthaus in mich, Matisse zu einem Besuch zu überreden, der sich dann aus Höflichkeit dazu bereit fand. Dort angekommen, ertönte uns das feierlichste Tremolo einer Orgel entgegen, und beim Eingang sah Matisse im Dämmerlicht den mit einem Kranz bedeckten Sarg langsam zur Inzineration (Einäscherung) versinken. Und gegen mich gerichtet, erschreckt, im Flüsterton: „Mon dieu, un mort“. Das Ereignis hat Matisse so schockiert, dass er zurück in Paris von den sonderbaren Gebräuchen der Deutschen berichtet, die sich zum Sonntagsvergnügen eine Leiche vorführen lassen, die überhaupt keine ist.

Mosaik für den Hohenhof

Ende 1913 erwirbt Osthaus sein letztes Bild von Henri Matisse, „Das blaue Fenster“, das sich heute im New Yorker Museum of Modern Art befindet. In seinem mutmaßlich letzten Brief an den Maler schreibt er: „Die Schönheit und Neuartigkeit der Harmonie Ihres Gemäldes hat mich tief beeindruckt.“

Nur noch das Fliesen-Triptychon „Nymphe und Satyr“ erinnert in Hagen, im Hohenhof, an diese singuläre Matisse-Sammlung. Die Gemälde erleiden ein trauriges Schicksal. Die Nationalsozialisten plündern das Museum Folkwang, nun bereits in Essen. Allein von den 94 Bildern aus der ehemaligen Osthaus-Sammlung fällt rund die Hälfte dem Bildersturm der „Entarteten Kunst“ zum Opfer. Gertrud Osthaus und ihr ältester Sohn Eberhard versuchen angesichts der drohenden Enteignung, die Bilder zurückzukaufen. Doch in diesem Fall nutzen Gertrud ihre guten Kontakte zur NS-Führung nichts. Die Nazis münzen die einzigartigen Kunstwerke 1939 bei einer Auktion in der Schweiz in Devisen um: Die „Badenden“ gehen an den Verleger Joseph Pulitzer jr., der sie dem Saint Louis Art Museum vermacht.

Letzte Lebensjahre an der Cote d’Azur

Henri Matisse wird am 31. Dezember 1869 in Le Cateau-Cambrésis in Frankreich geboren. Zunächst studiert, lebt und arbeitet er in Paris, von 1916 bis 1954 hält er sich an der Cote d’Azur auf. 1947 beginnt Matisse mit Entwürfen für die Rosenkranzkapelle der Dominikanerinnen in Vence, die ihn in seinen letzten Lebensjahren fast ausschließlich beschäftigt. Der Maler stirbt am 3. November 1954 in Nizza an einem Herzanfall.

Die Informationen zu diesem Text stammen aus: Rainer Stamm und Gloria Köpnick: Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt (C.H. Beck-Verlag, 29,95 Euro). Weiter werden Informationen verwendet aus: Birgitt Borkopp-Restle, Barbara Welzel (Hg): Das Krematorium von Peter Behrens in Hagen. Klartext-Verlag, 19,95 Euro.