Haspe. Eher zufällig hat es eine ukrainische Flüchtlingsgruppe nach Haspe verschlagen. Per „Zoom“ nimmt Nikita weiter am Unterricht seiner Klasse teil.

Konzentriert blickt Nikita auf den Bildschirm seines Laptops. Der 13-Jährige verfolgt aufmerksam die Präsentation seines Mathematiklehrers, der ihn per Homeschooling in die Welt der Geometrie entführt. Per „Zoom“-Videokonferenz sind die Schüler seiner Klasse miteinander verbunden – während der Flüchtlingsjunge aus der Ukraine den Unterricht in der Geborgen- und Sicherheit auf den Hasper Höhen verfolgt, harrt das Gros seiner Freunde mitten im Kriegsgebiet aus.

Zwei- bis dreimal am Tag schlagen russische Raketen in seiner Heimat, der Millionenstadt Dnipropetrowsk am Ufer des Dnepr, ein. Sobald Sirenenalarm ertönt, fällt der Unterricht aus und wird manchmal sogar am Sonntagvormittag nachgeholt. „Einen Tag vorher erfahren wir immer, wann die nächste Zoom-Konferenz beginnt“, erzählt Nikita, während er sich zwischendurch wieder einige Notizen in seinem Ringbuch macht. Obendrein erhält er Informationslinks aus dem ukrainischen Bildungsministerium, die ihm das Leben, die Kultur und die Besonderheiten seines Fluchtlandes kindgerecht näherbringen. Schulalltag mitten in einem Angriffskrieg: Mathe, Englisch, Ukrainisch, Geschichte und Literatur stehen auf dem Stundenplan, beschreibt Nikita seine Situation: „Meist sind es drei bis fünf Schulstunden am Tag – danach gibt es noch Hausaufgaben.“ Das Ergebnis seines disziplinierten Schaffens fotografiert er ab und schickt es seinem Lehrer in die Ukraine. Kontrolliert, korrigiert und benotet kommt seine Arbeit per Internet zurück zum Kursbrink.

Mit Hund in Köln gestrandet

Dort lebt der ukrainische Schüler seit zwei Wochen mit seiner Mutter Juliia (43), deren Nichte Olena (20) und der Arbeitskollegin Nataliia (36). Wobei eigentlich deren Hund „Mark“, ein eisbärartiger Samojede-Schlittenhund den Ausschlag gab, dass die Flucht-Odyssee des Quartetts letztlich in Haspe endete. Denn die Hundehalterin und Medizinerin (Epidemiologin) wollte eigentlich mit ihrer Gruppe bei einem befreundeten Arztkollegen ihres Mannes in Köln unterkommen. Doch nach mehrtägiger Bahnreise durch die Ukraine sowie Zwischenstationen in Polen stellte sich letztlich am Hauptbahnhof der Domstadt heraus, dass dort kein Platz für drei Erwachsene, ein Kind und einen ausgewachsenen, schneeweißen Hund mit massivem Bewegungsdrang war.

Homeschooling am Hasper Küchentisch: Per Zoom-Videokonferenz nimmt Flüchtling Nikita (13) jeden Tag drei bis fünf Stunden am Schulunterricht seiner Klasse in der Ukraine teil. Seine Hausaufgaben kontrolliert der Lehrer in Dnipropetrowsk per Internet.
Homeschooling am Hasper Küchentisch: Per Zoom-Videokonferenz nimmt Flüchtling Nikita (13) jeden Tag drei bis fünf Stunden am Schulunterricht seiner Klasse in der Ukraine teil. Seine Hausaufgaben kontrolliert der Lehrer in Dnipropetrowsk per Internet. © WP | Michael Kleinrensing

Und so klingelte Mitte März bei Karin Thoma-Zimmermann in Haspe das Telefon. Die pensionierte Pädagogin ist nämlich nicht bloß Hüterin der legendären Kirmesesel, sondern schon seit Jahren in der Betreuung Hilfesuchender engagiert. So beherbergt sie in ihrem Zuhause bereits einen syrischen Flüchtling und betreut zudem im Rahmen des Kirchenasyls Frauen aus Aserbaidschan, die im Rahmen des Ukraine-Krieges mit ihren russischen Sprachkenntnissen wichtige Dolmetscheraufgaben übernehmen. Aus diesen Netzwerken heraus, wurde an die 70-Jährige die Bitte herangetragen, die in Köln gestrandete Fluchtgruppe auf der Suche nach Frieden bei sich aufzunehmen.

In einem kurzen Telefonat mit dem Hasper Pfarrer Jürgen Schäfer versicherte sie sich der Rückendeckung der Evangelischen Kirchengemeinde Haspe und machte sich – mit einer ukrainischen Fahne als Erkennungssignal – auf den Weg zum Hagener Hauptbahnhof. Dort nahm sie die ihr völlig fremden Flüchtlinge am Gleis in Empfang und quartierte sie am Kursbrink in der Wohnung ihrer verstorbenen Eltern ein. „Wer seinen Hund mitnimmt, ist ein guter Mensch“, hörte Karin Thoma-Zimmermann, selbst Halterin eines Schäferhundes sowie eines Akita-Rüden, zugleich auf ihr Bauchgefühlt und ihr Herz.

Ruhe zum Abschalten

Am Rande des Hasper Waldes, begleitet von einer wohlwollenden Nachbarschaft und einer fürsorglichen Kirchengemeinde, finden Juliia, Nataliia, Olena und Nikita hier zwischen dem obligatorischen Ämtermarathon, VHS-Sprachangeboten und den bald startenden Integrationskursen immer wieder Momente der Ruhe und des Abschaltens. „Selbst als der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine immer massiver wurde, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass es zum Krieg kommt“, blickt Laborantin Juliia auf jenen folgenschweren 24. Februar zurück, als auch in Dnipropetrowsk die ersten beiden Raketen aus Putins Arsenalen in der Stadt einschlugen.

1291 Flüchtlinge gemeldet

1291 Menschen aus der Ukraine, so die aktuellste Zahl von Sebastian Arlt, Leiter des Flüchtlingskrisenstabes, sind zurzeit in Hagen offiziell gemeldet.

Davon befinden sich 422 Personen in städtischen Einrichtungen, während das Gros der Hilfesuchenden privat untergekommen ist.

Hier der konkrete Überblick über die wesentlichen Standorte: Karl-Adam-Halle (134), Haus Busch (66), Gästehaus der Fernuni (18), Hotels (65), städtische Wohnungen (61), Sinfonium der Stadthalle (78).

Darüber hinaus gibt es noch eine Corona-Quarantäne-Unterkunft in der Turnhalle am Kuhlerkamp sowie weitere Sportstätten in Altenhagen, Halden sowie in der Boelerheide in Bereitschaft.

Danach herrschte in der Metropole und viertgrößten Stadt der Ukraine zunächst zwei Wochen relative Ruhe. Doch als im März die nächsten Bomben folgten und die Fliegeralarme häufiger wurden, machte sie sich mit ihrer Mediziner-Kollegin Nataliia und ihrem Sohn angesichts der Zerstörungen in den Nachbarstädten auf den Weg. Ihre Nichte Olena stieß noch aus der Hafenstadt Odessa, wo sie zuletzt an der Marine-Akademie Nautik studierte, zu der kleinen Gruppe: „Bei Kriegsbeginn weckte mich mein Freund, als erstmals die Sirenen heulten, und wir retteten uns in den Keller des Studentenwohnheims“, glaubte die 20-Jährige zunächst an einen blöden Scherz, weil sie die Detonationen in der Ferne für Baustellenlärm hielt.

Handy-Verbindung in die Heimat

Heute telefonieren die Frauen regelmäßig mit ihren Liebsten in der Heimat: „Unsere Eltern sind alt, sie wollten nicht mitkommen“, ist Nataliia in steter Angst beim Blick auf die Fotos aus ihrer Heimat. Überall in der Ukraine haben die Flüchtlinge Freunde und Verwandte, die ihnen Bilder des Schreckens aus der Heimat nach Haspe senden. Entsprechend groß war dieser Tage die Panik, als in den frühen Morgenstunden über dem Kursbrink zwischen Geweke und Spielbrink die Sirenen heulten. Harmloser Feuer- statt todbringender Fliegeralarm – für Flüchtlinge aus einer Kriegsregion eine absolute Schreckenserfahrung.

Handys und ein zuverlässig funktionierendes WLAN-Netz bleiben trotz aller Hasper Herzlichkeit die wichtigsten Informationsbegleiter die Ukrainer, um die Schicksalstage in der Heimat und das Leben und Wohlbefinden der Familien mitten im Krieg zumindest aus der Ferne mit Liebe und Empathie kontinuierlich begleiten zu können. Nur wenn Sohn Nikita am Nachmittag seine Gitarrenstunden hat – das Instrument stammt aus der Nachbarschaft – muss Mutter Juliia ihr Mobil-Telefon schon mal aus der Hand legen. Denn während der Musikpädagoge auf dem Monitor der 13-Jährigen die neuen Griffe demonstriert, flackern über den Handy-Bildschirm die Notenblätter. Instrumentaler Einzelunterricht über 2300 Kilometer hinweg – eine musikalische Verbindung aus dem ukrainischen Kriegsgebiet auf die friedvollen Hasper Höhen.