Hagen. Was Alec Plotnikov zu erzählen hat, möchte niemand erzählen müssen. Interview über den Ukraine-Krieg mit einem Hagener, der dort Verwandte hat.

Als er das Mikrofon ergreift, sind alle still. Was Alec Plotnikov und seine Familie zu erzählen haben, möchte niemand erzählen müssen. Es sind Worte über den Krieg in Europa. Über Verwandte, die neben dem Fernsehturm in Kiew leben, der vor einigen Tagen bei einem russischen Angriff getroffen wird und bei dem Menschen sterben. Es sind Worte über die Wut auf Putin, über die Hoffnung auf Frieden. Die Worte eines jungen Hageners, der gehofft hatte, einen Krieg in Europa niemals miterleben zu müssen, und jetzt um das Leben seiner Lieben bangen muss.

Viele von uns können und möchten sich überhaupt nicht vorstellen, was in Ihnen und Ihrer Familie aktuell vorgeht...

Alec Plotnikov: Das wünsche ich auch wirklich niemandem. Es sind vor allem Angst und Ungewissheit – und pures Entsetzen. Ich bin eigentlich ein fröhlicher und lustiger Mensch. Mein Vater auch. So wie ich ihn in der letzten Woche erlebt habe, kenne ich ihn nicht – und mich selbst auch nicht. Ich habe keine Nacht richtig geschlafen. Die Sorge um meine Großmütter, die beide in Kiew leben, sind einfach zu groß.

Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag des Krieges. Ich wollte gegen 5.20 Uhr, so wie immer, das Haus verlassen. Dann hat das Telefon geklingelt. Ich wusste, dass es kein Wecker sein kann. Also bin ich zurück; und bin drangegangen. Auf der anderen Seite war meine Oma am Telefon. Sie hat gesagt: ,Alec, wir sind jetzt im Krieg.“ Das Gefühl was ich da hatte, das kann man nicht beschreiben oder in Worte fassen.

Wie haben Sie die Tage seit diesem Anruf erlebt? Können Sie Kontakt zu ihren Verwandten halten?

Ja. wir telefonieren jeden Tag, manchmal mehrfach, um uns zu vergewissern, dass bei Ihnen alles gut ist. Beide suchen Schutz in ihren Kellern und halten sich dort auch den Großteil des Tages auf. Die Sorge bleibt trotzdem. Ein schlimmer Tag war besonders auch, als der Fernsehturm in Kiew angegriffen wurde.

Sie haben bei der Friedenskundgebung in Hagen davon gesprochen, dass Ihre Großmutter genau neben dem Fernsehturm in Kiew lebt?

Genau. Ich bekam an diesem Tag eine Eilmeldung auf mein Handy, dass der Fernsehturm bei einem russischen Angriff getroffen wurde und dass es Tote gibt. Als ich meine Oma dann nicht erreichen konnte, war das schlimm. Zum Glück – und es ist skurril in einer solchen Situation von Glück zu sprechen – ist sie aber nicht zu Schaden gekommen oder verletzt worden. Ihr geht es gut.

Beiden geht es gut. Meine eine Oma sagt immer: Sie hat den Zweiten Weltkrieg überlegt und wird nun auch diesen Krieg überleben. Aber ich weiß, dass sie manche Sachen nur sagt, um uns zu beruhigen…

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Wann sind Sie denn selbst zuletzt in Kiew gewesen?

Zum Jahreswechsel, um auf ein schönes neues Jahr anzustoßen...

Seit meiner Kindheit bin ich eigentlich mindestens einmal pro Jahr dort gewesen, letztes Jahr sogar dreimal. Es ist schlimm, dann solche Bilder im Fernsehen und den Zeitungen zu sehen.

Kann man in diesen schwierigen Tagen überhaupt an etwas anderes denken? Und wie bleiben Sie über die Situation auf dem Laufenden?

Man verfolgt die Nachrichten schon den ganzen Tag – auch auf der Arbeit. Mein Arbeitgeber hat zwar angeboten, mich für die Zeit freizustellen, aber ich möchte auch nicht den ganzen Tag zuhause sitzen und im Sekundentakt die Kriegsbilder verfolgen. Aber natürlich informiert man sich über ukrainische Kanäle. Und die wichtigsten Nachrichten bekommt man heute aufs Handy als Eilmeldung.

Dass worüber wir jetzt sprechen, ich hätte niemals gedacht, dass das Realität wird. Mein Vater hat jetzt noch gesagt: Seine Generation sollte die erste Generation werden, die keinen Krieg in Europa miterleben muss. Jetzt müssen sogar die Kinder dieser Generation den Krieg miterleben. Ich, und ich glaube wir alle, hoffen, dass das bald ein Ende hat. Die Situation macht mich einfach traurig und wütend. Wütend auf Putin. Aber auch wütend auf Menschen, die andere Menschen mit russischen Wurzeln dafür zu Unrecht verurteilen. Das ist, wie es auch schon oft gesagt wurde, Putins Krieg, nicht Russlands Krieg.

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Sie sind mit Ihrem Vater nun schon auf verschiedenen Friedensdemonstrationen gewesen. Wie erleben Sie die Hilfsbereitschaft hier in Deutschland – vielleicht auch ganz konkret in Hagen?

Das ist unfassbar. Zu sehen, wie viele Menschen zusammen für den Frieden auf die Straße gehen, so viel Hilfe organisieren - sei es in den Städten oder durch Transporte und Konvois. Zur Kundgebung in Hagen: Ich habe noch nie vor so vielen Menschen so frei gesprochen, und so emotional. Das hat Überwindung gekostet, aber ich wollte einfach ein Zeichen setzen. Für den Frieden, für die Ukraine.

Mein Vater ist am Wochenende mit einem Hilfskonvoi unterwegs gewesen, um Hilfsgüter an die Grenze zu bringen und Kriegsflüchtlinge in Sicherheit zu bringen – sie werden in der Nacht auf Montag zurück in Hagen erwartet. Ich wäre auch gerne mitgefahren, aber ich wollte niemandem den Platz wegnehmen. Ich bin hier in Sicherheit. Die Menschen dort bangen um ihr Leben. Wir können alle nur weiter hoffen, dass dieser Krieg endlich bald ein Ende hat.