Hagen. Vor 60 Jahren ist ein Abkommen für Gastarbeiter zwischen Deutschland und der Türkei geschlossen worden. So kam Kemal Öner nach Hagen.

Er kannte ja die Erzählungen. Jeder hat eine eigene Wohnung. Jeder hat einen eigenen Fernseher. So war es in der Heimat, in der Türkei, überliefert worden. Dann kam der 26. Juni 1971. Kemal Öner stieg am Hagener Hauptbahnhof aus dem Zug. Ein Mann holte ihn ab, brachte ihn von Hagen zunächst nach Schwelm. Wo er mit mehreren seiner neuen Arbeitskollegen in einem heruntergekommenen Ladenlokal hausen sollte. „Ich habe gedacht, ich bin im falschen Land gelandet...“

60 Jahre ist es her, dass die Türkei und Deutschland ein Abkommen über sogenannte Gastarbeiter geschlossen haben. Kemal Öner zählte nicht zu den allerersten, aber doch zur ersten Generation. Und er ist einer der vielen, für die das Wort Gastarbeiter nie mehr Wirklichkeit werden sollte. Gäste gehen wieder. Kemal Öner hat später seine Frau und seine Kinder nachgeholt. Geblieben ist die Familie bis heute.

Integrationsrat will an die ersten Gastarbeiter erinnern

Im Integrationsrat der Stadt geht es darum, an Menschen wie Kemal Öner zu erinnern. An Menschen, die am Bahnhof gestrandet sind. Zufällig. Ohne irgendetwas über jene Stadt zu wissen, die zu einem Zuhause werden sollte. „Am Bahnhof sind die Gastarbeiter angekommen. Und der Bahnhof und die Straßen drumherum sollten für viele ein Anlaufpunkt bleiben. Hier haben sich diejenigen verabredet, die aus einer Region kamen“, sagt Hakan Severcan, Vorsitzender des Integrationsrats. Er und das Gremium machen sich dafür stark, mit einer Plakette an jene Zeit zu erinnern.

Mit dem Zug nach Hagen: Dieses Foto zeigt Gastarbeiter bei der Ankunft in Hohenlimburg am 7. Dezember 1966.
Mit dem Zug nach Hagen: Dieses Foto zeigt Gastarbeiter bei der Ankunft in Hohenlimburg am 7. Dezember 1966. © WP | Stadtarchiv

Eine Idee, die Kemal Öner und seine Frau Ismet unterstützen. Weil sie sich selbst noch so gut an die Anfänge erinnern. Er war allein. Telefonleitungen in die Heimat brachen zusammen. Oft nur per Post konnte er Kontakt halten. Dann kam sie nach. Beide haben nicht vergessen, wie sehr sie das Heimweh gequält hat, wie sehr sie ihre Kinder Olcay und Özgür vermissten, die zwei Jahre lang ohne Eltern in der Türkei blieben und auch keine Lust hatten, nach Deutschland zu kommen. „Ich habe bei jedem Essen da gesessen und geweint“, sagt Ismet Öner. „Ich war doch ihre Mutter...“

Kinder vermissen in Hagen ihre Freunde

7075 Türken leben aktuell in Hagen

In Hagen leben aktuell 7075 Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft.

Hinzu kommen etliche Migranten aus der Türkei, die die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben.

Die Kinder kamen nach. Sie vermissten die Freunde. Und in der Schule war alles anders: „Ich weiß noch, wie mein Sohn mich gebeten hat, den Lehrern Türkisch beizubringen“, sagt Kemal Öner.

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Diesen Weg ging das Ehepaar, das einst in Ankara gelebt hat, nicht. Im Gegenteil. Es förderte die Sprachkenntnisse der Kinder. „Wir haben immer gesehen, wie wichtig die Sprache als Schlüssel ist“, sagt Ismet Öner, die 40 Jahre lang ein Reisebüro im Bahnhofsviertel betrieben hat, „wir haben Sprachunterricht ermöglicht.“

Im Fokus der Rechtsextremisten in der Türkei

Es kamen viele in dieser Zeit. Und die, die nach Hagen kamen, hatten die unterschiedlichsten Biographien. Vielleicht stach die von Öner heraus. Vielleicht half sie ihm, sich besser in der neuen Welt zurechtzufinden. Öner, studierter Maschinenbauingenieur, der ein Unternehmen mit 350 Mitarbeitern leitete, engagierte sich in der sozialdemokratischen Partei. Er geriet in den Fokus der Grauen Wölfe, der Rechtsextremisten in der Türkei und sagt noch heute: „Die Lage wurde komplizierter. Wenn ich das Land nicht verlassen hätte, würde ich nicht mehr leben.“

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Öner ging, Öner kam an. Zunächst mit dem Zug. Jahre später dann aber auch im Alltag des Landes und der Stadt, die so wenig mit seiner Heimat gemein hat. „Ich habe bei der Firma Intertruck in Gevelsberg-Vogelsang gearbeitet. Bin nach einem Jahr zum Kontrolleur aufgestiegen“, sagt Öner. „Meine Abschlüsse aus der Türkei hat niemand anerkannt.“

An Weihnachten in die Kirche

Die Öners bezogen eine eigene Wohnung, kauften später ein eigenes Haus. „Das hatte damit zu tun, dass es für uns als Türken schwierig war“, sagt Öner. „Es gab Vermieter, die uns als Türken nicht wollten.“ Längst hatten die Öners deutsche Pässe. Einfacher im Alltag machte es das aber nicht zwangsläufig.

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Kemal Öner engagierte sich auch in Hagen. Er wurde Mitglied der SPD, trat bei der Kommunalwahl an, gründete 2001 den Demokratisch-Türkischen Bund. „Wir haben Vereine und Gemeinden eingeladen, haben Feste organisiert“, sagt Kemal Öner, der regelmäßig die Moschee besucht und an Weihnachten in die Kirche geht.

Gebete für die Zukunft der Kinder

In der Moschee haben sie dafür gebetet, dass die Kinder eine Zukunft haben in diesem Deutschland. Özgür arbeitet als Bauingenieurin bei der Stadt Hagen, Olcay für die EU. „Gott sei dank“, sagt Ismet Öner, „die Kinder haben es geschafft.“