Hagen. Durch die Corona-Pandemie schreitet die Digitalisierung voran. Für Menschen mit Behinderung ist das auch in Hagen eine riesige Herausforderung.

Viele Menschen haben in Hagen unter der Corona-Pandemie gelitten. Das mag besonders für jene gelten, die sich oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen, die häufig nicht einmal einen Zugang zu digitalen Geräten haben, um zumindest so in einer von Kontaktverboten dominierten Pandemie am Leben teilzuhaben. Viele Menschen mit Behinderung, für die die Arbeit in Werkstätten ein wichtiger Bestandteil ihre Lebens und des Miteinanders ist, sind auf der Strecke geblieben. Darüber sprach unsere Zeitung mit Meinhard Wirth, Leiter der St.-Laurentius-Werkstätten der Caritas und engagiert in der Arbeitsgemeinschaft Partizipation.

Warum sind Menschen mit Behinderung in besonderer Weise von den Corona-Einschränkungen betroffen?

Meinhard Wirth: Für uns alle hat die Pandemie eine Reihe von Veränderungen und Einschränkungen mit sich gebracht. Auch Ängste vor dem, was da gerade passiert, spielen eine große Rolle. Für viele ist dies noch immer so. Menschen die von einer Behinderung betroffen sind, leiden jedoch häufig noch stärker. Das Fehlen von sozialen Kontakten, Freizeiteinrichtungen und Gruppentreffen führt zu völliger Isolierung und erheblichen psychischen wie sozialen Beeinträchtigungen. Viele Unterstützungsangebote sind ganz oder in großen Teilen weggebrochen.

Was heißt das im Alltag?

Die Bedeutung von tagesstrukturierenden Angeboten oder Freizeitangeboten hat bei vielen Menschen auch noch einen therapeutischen Charakter oder stützt die Lebenssituation und kompensiert Behinderung oder gesundheitliche Einschränkungen. Familiäre Unterstützungsangebote sind häufig nicht vorhanden. Obendrein sind Menschen ohne Auto auf den ÖPNV angewiesen und damit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Die Bewegungsfreiheit wurde deutlich eingeschränkt, viele Menschen waren monatelang fast nur in ihrer Wohnung. Auch weil die Tätigkeit in einer Werkstatt für Menschen mit einer Behinderung zeitweise wegen des extrem hohen Infektionsrisikos deutlich eingeschränkt werden musste oder gar nicht mehr möglich war.

Sind denn das Internet und Online-Meetings keine Alternative?

Nein. Digitale oder telefonische Ersatzangebote werden nicht als hilfreich wahrgenommen und sind auf Grund fehlender technischer, kognitiver oder emotionaler Ressourcen kein wirklicher Ersatz. Das Wegfallen mimischer Signale von Mitmenschen und Helfern durch das Tragen von Masken, produzieren mehr Missverständnisse – insbesondere bei emotional labilen Menschen und Menschen mit einer Wahrnehmungsstörung. Auch Menschen mit Hörbeeinträchtigung sind aufgrund der Abstandsregeln und der Maskenpflicht von der Kommunikation in Teilen völlig ausgeschlossen.

Wie gehen denn Menschen mit Behinderung mit digitalen Angeboten um?

Die Digitalisierung hat durch die Pandemie einen echten Schub bekommen. Dienstleistungen aller Art in Behörden und Wirtschaft, Einkäufe von Dingen des täglichen Bedarfs, Bankgeschäfte, Videokonferenzen, digitale Kommunikation an nahezu jedem Ort, sogar der virtuelle Besuch eines Museums oder einer Kunstausstellung sind ja möglich. Aber: Bewährte Ansprechpartner, z.B. in einer Bank oder Sparkasse, gibt es nicht mehr. Stattdessen stehen auch Menschen mit Behinderung Computerterminals und Automaten gegenüber. Was passiert mit den vielen Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder auch Senior/innen, die nicht in der Lage sind, die Errungenschaften der Digitalisierung zu nutzen, weil sie vielleicht vieles nicht verstehen oder kein Geld für die notwendige technische Ausstattung haben? Eben Menschen, die nicht selbstverständlich ihr Tablet auspacken, die über keine Mail-Adresse, Flatrate oder Kreditkarte verfügen. Menschen, die kein Onlinebanking betreiben können und auf Hilfe eines Bankangestellten dringend angewiesen sind.

Was fürchten Sie?

Es besteht die große Gefahr, dass Millionen Menschen von den Errungenschaften der Digitalisierung abgehängt werden, mit all den Folgen, die oftmals heißen: Einsamkeit und Zurückbleiben.

Wie reagiert die AG Partizipation darauf?

Vertreter aus Wohlfahrtsverbänden, Stadtverwaltung, sozialen Dienstleistern und Mitarbeiter der Fachhochschule haben sich zusammengeschlossen. Unser Ziel ist es, Menschen mit einer Behinderung zu mobilisieren und sie bei einer politischen Teilhabe zu unterstützen. Eine Möglichkeit hierfür stellt der politische Stammtisch dar, der sich seit Oktober 2017 einmal im Monat, mit 20 bis 40 Teilnehmern mit und ohne Behinderung, trifft. Bedingt durch die Pandemie ist es seit Monaten nicht mehr möglich, einen Stammtisch durchzuführen. Daher hat sich die AG Partizipation mit einem digitalen Stammtisch beschäftigt.

Und haben die Menschen mit Behinderung reagiert?

Viele Mitglieder mit einer Behinderung hatten Ängste vor einem digitalen Treffen. Das Hauptproblem stellt aber die fehlende technische Ausstattung und der große Unterstützungsbedarf dar. Es scheitert an einem fehlenden Endgerät, einer nicht vorhandenen E-Mail-Adresse aber auch an nicht vorhandenen Grundkenntnissen im Umgang mit den neuen Medien. Nur mit viel Aufwand und persönlicher Assistenz für die meisten Stammtischteilnehmerinnen und -teilnehmer ist es überhaupt möglich gewesen, diesen ersten digitalen Stammtisch zu organisieren. Und auch wir nicht von einer Behinderung betroffenen Teilnehmer hatten erhebliche Schwierigkeiten bei der Organisation dieses Formates.

Wie beurteilen Sie das Format?

Es ist sicherlich nur ein erster Versuch Menschen mit einer Behinderung in die „neue digitale Welt“ mitzunehmen. Dieser Versuch zeigt aber auch eindeutig die Barrieren auf. Wir alle, aber besonders Menschen mit einer Behinderung, brauchen Unterstützung. Die Betroffenen dürfen nicht wieder von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abgehängt werden. Eine Teilhabe muss sichergestellt werden.