Hagen. Seit zehn Jahren gibt es nun das „90 Grad“ an der Leiblstraße. Ein Gegen-Konzept zu den großen Discountern, das sehr verlässlich funktioniert.

Willkommen im Antipol der Hagener Lebensmittelwelt. Nur zwei eigene Parkplätze, keine Lieferantenanfahrt, Minimum 700 Quadratmeter zu wenig und völlig entgegen der Strategie der Discounter, ihre großen Läden nur noch in kleineren Gewerbegebieten zu zentrieren, die fußläufig meistens nicht erreichbar sind und der Massenabfertigung dienen. Willkommen im „90 Grad“ an der Leiblstraße, das ziemlich still und leise seit zehn Jahren seine eigene Erfolgsgeschichte schreibt.

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Auch nach zehn Jahren ist das „90 Grad“ immer noch ein Erfolgsmodell

Die beiden jungen Mitarbeiter, die an diesem Morgen im Laden unterwegs sind, würden ältere Menschen wohl etwas oberflächlich als „hip“ bezeichnen, ohne eigentlich zu wissen, was sich hinter der Bezeichnung verbirgt. Etwas treffender könnte man schlichterweise modern sagen. Was aber vor allem auffällt: Die beiden Herren sind charismatisch und haben eine sehr zugängliche Art, die über die oft mechanische Kommunikation „Kann ich ihnen helfen?“ hinausgeht. „Das ist ein Detail“, sagt Kolja-Eric Rüßmann, der den „90 Grad Convenience Store“ vor zehn Jahren aus der Taufe gehoben hat und noch immer von einem Erfolgsmodell spricht. Auf dieses Detail, die Haltung seiner Mitarbeiter, wird er gleich noch mal zurückkommen.

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„Stelle den Kunden nicht elf Buttersorten ins Regal, sondern drei gute“

Wir müssen erstmal übersetzen. Convenience heißt Bequemlichkeit. Und das ist mit Blick auf Ernährung ja eigentlich das genaue Gegenteil des Achtsamkeits-Trends, der die deutsche Lebensmittelindustrie gerade mit voller Wucht trifft und unter anderem dafür sorgt, dass so wenig Fleisch wie lange nicht zuvor konsumiert wird. Aber Dosenravioli, Fertig-Pizza und eingeschweißte Sandwiches sind nicht gemeint. Bequemlichkeit bezieht sich auf den Einkauf. „Der Einkauf soll bequem“ sein, sagt Inhaber Kolja-Rüßmann. er verfolgt zwei, drei Leitprinzipen. Erstens: Stiehl deinen Kunden nicht die Zeit. Soll heißen: Stelle ihnen nicht elf Buttersorten wie bei riesigen Massen-Discountern ins Regal, sondern drei gute. Übersicht schafft Einfachheit. „Das beste Beispiel ist der Ehemann“, der kurz nach Feierabend von seiner Frau noch zum Einkaufen geschickt wird, aber völlig unerfahren im Einkaufen ist. Genau der findet sich zügig hier zurecht und kommt immer wieder.“

Kolja-Eric Rüßmann bereitet einen Cappuccino an der Kaffeebar des „90 Grad“ zu.
Kolja-Eric Rüßmann bereitet einen Cappuccino an der Kaffeebar des „90 Grad“ zu. © Michael Kleinrensing

Das „90 Grad“ hat Öffnungszeiten von 6 bis 24 Uhr

Das klingt nach Bedienung von Rollen-Klischees, ist aber – das Wort taucht oft im Zusammenhang mit diesem Lad auf – das Gegenteil. Denn das „90 Grad“ hat Öffnungszeiten von 6 bis 24 Uhr. Familien, arbeitenden Frauen und Männern, soll es möglich sein, ihren Einkauf bequem dann zu machen, wenn die Arbeitszeit noch nicht drückt. Und so sind es keinesfalls Studenten, die vor Mitternacht noch Zigaretten oder Bierdosen holen. Es sind auch oft Elternteile, die gerade die Kinder im Bett oder sogar Senioren, die den Trubel der Nachmittagszeit scheuen und entspannt zu Fuß rumkommen.

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Kolja-Eric Rüßmann hat mal die Regensburger Arcaden geleitet

Und zuletzt: Einzigartigkeit scheint Vorteile zu bringen. „Wir bieten hier 6000 Artikel statt den 60.000 an, die die großen Discounter im Regal haben“, sagt Eric Kolja-Rüßmann. 6000 qualitativ gute Artikel, wie er betont. Man werde von Rewe beliefert und könne flexibel auf individuelle Wünsche jüngerer und älterer Kunden eingehen. Das zieht. Persönliches Kümmern, so sagt Kolja-Rüßmann, schafft Vertrauen und bindet an die Mini-Marke „90 Grad“. Und um der Andersartigkeit ein bisschen die Krone aufzusetzen, sei noch erwähnt, dass der Chef einst als Center-Manager die Regensburger-Arcaden geleitet und Millionen-Umsätze verwaltet hat mit Werbe-Budgets im siebenstelligen Bereich. Jetzt sitzt er in seinem Büro unter dem „90 Grad“, das wie ein moderner Tante-Emma-Laden daherkommt. Worauf Kolja-Rüßmann übrigens ziemlich stolz ist.

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Kolja-Eric Rüßmann räumt Waren in das Regal des 90 Grad.
Kolja-Eric Rüßmann räumt Waren in das Regal des 90 Grad. © WP | Michael Kleinrensing

Heute bestehen nur noch zehn Prozent der Waren aus Drogerieartikeln

Die Immobilie, in der der Laden beheimatet ist, gehört ihm. „Ich wollte vor zehn Jahren zurück zu meinem Wurzeln. Nach Hagen und zum lokalen Handel“, sagt er. Am Standort war seit den 60er-Jahren mal eine Michael-Brücken-Filiale. Später zehn Jahre lang ein Schlecker-Laden. Als Schlecker pleite ging wollte Kolja-Rüßmann zunächst ein Drogerie-Konzept hier weiterfahren. Heute bestehen nur noch zehn Prozent der Waren aus Drogerieartikeln. Die Menschen, sagt Kolja-Rüßmann, wollen im Viertel schlicht ihre Einkäufe erledigen. „Ich glaube, wir sind dadurch zukunftsträchtiger als die ständige Zentralisierung von Supermärkten“, sagt der Chef. Man sei eben „um die Ecke“. Deshalb auch „90 Grad“.

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Der Austausch zwischen den Generationen ist Teil des Konzepts

Stolz sind sie hier auf ihren Publikums-Mix. Und damit schlägt Rüßmann die Brücke zu seinem Personal. Unter den zehn Kollegen sind auch Mittfünfziger. Vor allem aber viele junge, aufgeschlossene Leute. „Das kommt sehr gut bei älteren Kunden an. Der Austausch zwischen den Generationen ist Teil des Konzepts. Wir pflegen das sehr gerne“, sagt Rüßmann.

Der Gemüseladen von Adolf Winkelmann an der Karl-Halle-Straße - ein weiteres gutes Beispiel für Nahversorgung im Viertel.
Der Gemüseladen von Adolf Winkelmann an der Karl-Halle-Straße - ein weiteres gutes Beispiel für Nahversorgung im Viertel. © Michael Kleinrensing

Der „Bergkauf“ und Dolf Winkelmanns Laden sind weitere gute Beispiele

Gute Beispiele für Nahversorgung im Viertel sind auch der „Bergkauf“ an der Kinkelstraße in Altenhagen oder der Gemüse- und Obstladen von Dolf Winkelmann an der Karl-Halle-Straße, wo Kunden sich manchmal auch einfach Nahrungsmittel von der Mauer draußen nehmen und das Geld hinlegen. Der Bergkauf in Altenhagen folgte erfolgreich auf die Schließung des Nahkaufs, der dort mehrere Jahre Kunden versorgte. In Hagen gibt es weitere Beispiele, diese sind zwei darunter.

Der Bergkauf an der Kinkelstraße folgte an dieser Stelle auf den Nahkauf.
Der Bergkauf an der Kinkelstraße folgte an dieser Stelle auf den Nahkauf. © Michael Kleinrensing