Hagen. In Hagen wird eine völlig neue, völlig andersartige Tanz-Kompagnie gegründet. Sie tanzt auch auf Baustellen.
Ram-pam-pam-pam! Jedes Mal, wenn der stählerne Abbruch-Meißel der hunderte Tonnen schweren Bagger auf den Beton der alten Marktbrücke knallt, schwingt die Wasseroberfläche in der Volme mit. Der Hall schleicht den Remberg hoch, er muss gar bis zum Buschey zu hören sein. Es staubt, es duftet nach Bauschutt. Plötzlich hören die Bagger mit dem Baggern auf. Sechs junge Menschen, trainiert bis in die letzte Faszie, Trainingshosen und Unterhemden an, betreten die Brücke. Musik erklingt. Sie tanzen. Eine Baustelle wird Bühne. Aufbruch statt Abbruch.
Teile der Tanzgruppe gehören dem Westdeutschen Tanztheater an, das frisch und mitten in der Corona-Pandemie in Hagen gegründet wurde. Mit dem israelisch-niederländischen Choreografen Sagi Gross planen Jozsef Hajzer und Peter Copek vom Hagener Ballett als freies innovatives Ensemble, verschiedener in Hagen und Umgebung wirkender Kulturschaffender eine Reihe von Theater und „Out- of-Theater“- Produktionen an unterschiedlichen Orten in der Stadt und in Südwestfalen, aber auch in ganz Deutschland und Europa. Die erste Kostprobe gab es gestern Abend beim Auftritt in der Johanniskirche am Markt unter dem Titel „The Solitute of Memory“.
Auch interessant
„Für mich und viele mein Kollegen war die Zeit des Lock-Downs ein einschneidendes Erlebnis. Wenn die Kultur verstummt, fehlt einer Gesellschaft ein elementares Bindeglied. Viele Bürger aus Hagen haben uns gespiegelt, wie sehr sie das kulturelle Leben der Stadt vermissen. Kultur schafft Identität und Gemeinschaft, sie vermittelt in Krisen Vertrautheit und gibt Menschen ein Gefühl von Kontinuität und Sicherheit“, sagt Josef Hajzer, der seit acht Jahren dem hagener Ballett angehört. Für die bunte, multinationale und vielschichtige Hagener Gesellschaft biete sich Tanz, als universelle Kunstform, die sprachliche Barrieren überwindet, besonders an. Die „freie Szene“ solle aktiviert werden. Für sie sollen mehr Möglichkeiten zu Kooperationen, Workshops, „Artists in Residence“ geschaffen werden, denn auch diese würden einen Beitrag zum Profil und zur Infrastruktur der Kulturstadt Hagen leisten. Unter „Artist in Residence“ sind Programme zusammengefasst, die es Künstlern unterschiedlicher Genres möglich machen sollen, ohne eigene finanzielle Mittel fernab ihres Wohnortes zu arbeiten. Mit Hilfe von Fördergeldern beispielsweise.
Die Westdeutsche Tanztheater mit Stützpunkt in Hagen soll allen Einwohnern gleichermaßen den Zugang zu Workshops, Proben, interkulturelle Projektangeboten und aktiver Mitgestaltung des aktuellen Tanzstückes ermöglichen. Als ständige Residenz würde das Tanzensemble, das bislang in Wehringhausen geprobt hat, beispielsweise das Wasserschloss Werdringen ins Spiel bringen. „Es gibt in Hagen ein sehr gebildetes Tanzpublikum, ein sehr diverses, das, anders als in großen Städten in der Umgebung, nicht nur zu einzelnen Tanzgruppen geht, sondern übergreifend guckt“, erklärt Hajzer. Das Westdeutsche Tanztheater“ könne mit einem Basisbudget von 300.000 Euro starten. Mit dem Geld sollen vier Tanzproduktionen, vier Workshops, fünf Integrationsprojekten und Kooperationsprojekten entwickelt werden, die neben Hagen im ganzen Südwestfalen und im Ausland (Amsterdam und Budapest) gezeigt werden.
Auch interessant
Die Tanzeinlage auf der Marktbrücke am Donnerstagnachmittag war allerdings ein Impuls, der an die Kunst-Aktion „Klavier an der Volme“ anknüpfen soll, die wiederum auf den Metzger Simon Cohn aufmerksam macht, der in der Pogromnacht am 10. November 1938 in seiner Privatwohnung über seiner metzgerei „Am Hohen Graben“ direkt an der Marktbrücke von Männern der SA und SS so verprügelt wird, dass er kurz darauf verstirbt. Seine Wohnung wird verwüstet, sein Klavier in die Volme geschmissen. Choreograf Sagi Gross und seine jungen Tänzer vertanzen die Gefühle dieser Nacht direkt vor Simon Cohns einstigem Haus.