Hagen. Der Fall in einer katholischen Hagener Gemeinde zeigt, wie das Erzbistum bislang mit solchen Fällen umgegangen ist und was sich ändern soll.
Als das Schöffengericht Anfang März einen ehemaligen Mitarbeiter einer katholischen Kirchengemeinde in Hagen wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie zu einer Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt, sorgt das in der betroffenen Gemeinde überhaupt erst dafür, dass sie erfährt, was vor drei Jahren geschehen ist. Aufklärung darüber, wo ein bis dato sehr geschätzter und überaus engagierter Mitarbeiter hin ist, hat es drei Jahre lang nicht gegeben. Nicht für Eltern, die ihre Kinder mit auf Freizeiten schickten. Nicht für die Kinder und Jugendlichen, nicht für den Rest der Gemeinde. Ein Blick darauf, wie das Erzbistum Paderborn noch bis vor einiger Zeit mit solchen Fällen umgegangen ist und was sich ändern soll.
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Betroffene Gemeinde erhält Informationen aus der Zeitung
Als die Information über die Verurteilung über unsere Zeitung an die Öffentlichkeit geriet, kamen viele Gefühle in der betroffenen Gemeinde hoch. Wut, Ärger, Verunsicherung, vor allem aber Unverständnis. Die Gefühle richteten sich auch gegen den Betroffenen. Wie eine Gemeindeversammlung wenig später aber zeigte: vor allem gegen das Erzbistum. Wieso hat es drei Jahre lang keine Informationen gegeben? Wo war die Aufarbeitung? Wo die Zuwendung an die Gemeindeglieder? Sind die eigenen Kinder vermutlich auf dem sichergestellten Bild- und Videomaterial zu sehen?
Noch ein Fall an einer Schule sorgt für Verunsicherung bei den Eltern
Jene Gemeindeversammlung war in diesem Fall ein Gegenpol zu dem, wie die Kirche glaubt, derartige Fälle aufzuarbeiten. In der sehr gut gefüllten Kirche saßen unter anderem auch Eltern, die einen ähnlichen Fall an einer katholischen Hagener Schule im Jahr 2018 erlebt hatten. Da traf es den damaligen Leiter. Die Verunsicherung war fortan ebenfalls groß. Informationen gab es nur aus dieser Zeitung.
Bis zum heutigen Tag, so sagen manche Betroffene, gab es in der Schule wenig bis keine Aufarbeitung. Mütter, deren Kinder sowohl diese Schule besuchen als auch der Gemeinde nahe stehen, in der der Mitarbeiter vor drei Jahren verschwand, hatten ihre Wut und ihren Ärger bei der Gemeindeversammlung deutlich zum Ausdruck gebracht.
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Schon 2017 trennt sich die Kirche vom betroffenen Mitarbeiter
Paderborn hatte seinerzeit seinen Personalchef zur Versammlung der Gemeinde geschickt. Was er erklärte, war faktisch und rechtlich alles richtig. Für Aufklärung und Beruhigung sorgte er mit zwei weiteren für Prävention zuständigen Kollegen nicht. Es habe immer die Unschuldsvermutung gegolten. Und zum Schutz des Mitarbeiters habe man nichts darüber kommunizieren wollen. Nicht zuletzt deshalb, weil es rechtlich ja auch gar nicht die Aufgabe des Dienstgebers sei. Und außerdem habe man sich ja noch 2017 im Einvernehmen von dem Mitarbeiter getrennt.
Wie soll man noch vertrauen?: Andere Bistümer gehen an die Öffentlichkeit
Derartige Ausführungen sorgten nicht für Aufklärung, sondern für weitere Fragen. Warum hat man sich denn so schnell getrennt? Und hört die Sache mit dem Schutz der Privatsphäre nicht auf, wenn ein derart heikler Zusammenhang zwischen dem Besitz kinderpornografischen Materials und dem direkten Umgang mit anvertrauten Kindern bestehe? Wie solle man der Institution Kirche vertrauen, wenn sie diese Informationen unter dem Deckmantel des Schweigens hält? Und überhaupt: Wie könne es sein, dass das unter anderem für Breckerfeld zuständige Bistum Essen Ende 2019 sehr wohl der Öffentlichkeit erklärt habe, dass gegen einen seiner Geistlichen ermittelt wird wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornografischer Schriften?
Die wichtigste Gruppe gerät aus dem Fokus: die Kinder
Die Entsandten des Erzbistums versuchten, ihr Aufklärungsverhalten chronologisch einzuordnen. Eine Abteilung, die sich genau damit gezielt befasse, habe man seit 2019. Dieser Fall hier läge aber zwei Jahre zurück. Und wieder Raunen in den Sitzbänken. Aufklärung sei doch keine Sache eines gewissen Startpunkts, sondern müsse auch nach hinten gerichtet werden, fanden einige Zuhörer. Und eine Mutter brachte treffend auf den Punkt, dass man bei der ganzen Sache wohl eine, wenn nicht die wichtigste Gruppe, gänzlich aus den Augen lassen würde: die Kinder. Heute, so erwiderten der Personalchef und sein Team, würde man sich anders verhalten. Dem Erzbistum Paderborn lägen aber keine Hinweise auf eine Gefährdung von Kindern am Einsatzort des damaligen Beschuldigten und heute Verurteilten vor.
Erzbistum unterstreicht mit neuer Ordnung Zusammenarbeit mit den Behörden
Grundsätzlich werde im Erzbistum Paderborn bei Vorwürfen, Hinweisen und Informationen, die sich auf Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung, den Erwerb, den Besitz oder die Verbreitung kinderpornografischen Materials beziehen, nach der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- und hilfebedürftiger Erwachsenen“ verfahren. Diese 2020 in Kraft gesetzte Ordnung sei an die Stelle der bisherigen Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz getreten. Mit dieser Ordnung unterstreiche das Erzbistum Paderborn auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden. Es gebe damit also ein einheitliches Verfahren, auch wenn jeder einzelne Fall sowohl in der theoretischen Betrachtung als auch im praktischen Angang strikt auseinanderzuhalten seien, weil sich keine Vergleichbarkeit biete.
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Systeme „sozial irritiert“: Abgestuftes Interventionsverfahren angelegt
Bei Vorwürfen, Hinweisen und Informationen handele das Erzbistum Paderborn inzwischen nach einem abgestuften Interventionsverfahren. Dazu würden Maßnahmen zur Unterstützung vor Ort gehören. „Es wird heute davon ausgegangen, dass die sozialen Systeme (z. B. Pastoralteams, Gremien, Pfarreien, Einrichtungen), in denen Missbrauchsvorwürfe gegen einen Kleriker oder andere kirchliche Mitarbeitende bekannt werden, vielfach stark und tiefgreifend irritiert sind. Die Begleitung und Unterstützung „irritierter Systeme“ zielt auf die von konkreten Missbrauchsvorwürfen betroffenen Institutionen wie etwa einer Kirchengemeinde, in der ein Beschuldigter tätig war“, erklärt das Erzbistum auf Anfrage.
Grundsätzlich müssten alle Perspektiven berücksichtigt werden
So würden Mitglieder der Interventionsgruppe betroffene Gemeinden oder Einrichtungen ab dem Bekanntwerden von Vorwürfen über die gesamte Zeit der Aufarbeitung beim Umgang mit den Fällen vor Ort begleiten. Das Erzbistum Paderborn biete daher konkrete Maßnahmen der Unterstützung und Begleitung an. Zum Beispiel: Zeitnahe Information, Angebote zu Gesprächen und zur Begleitung der hauptamtlichen Mitarbeiter in den Pastoralteams, Gespräche und Austausch mit ehrenamtlichen Mitarbeitern zum Beispiel im Rahmen einer Gemeindeversammlung unter professioneller Moderation, Angebot von Einzelgesprächen oder Hinweise auf externe Fachberatung. Bei den Maßnahmen der Aufarbeitung, Intervention und Prävention von sexuellem Missbrauch sei es entscheidend, dass grundsätzlich alle Perspektiven berücksichtigt würden, insbesondere die der Betroffenen.
Neue Ordnung gilt jetzt: Zum 1. Januar wurde sie erneut überarbeitet
Wie das Erzbistum Paderborn auf jeden konkreten Fall und jeden Verdachtsfall von Missbrauch und sexualisierter Gewalt durch Kleriker und Laien im kirchlichen Dienst reagiert und welche Maßnahmen es ergreift, folge durchgehend der oben bereits erwähnten, einheitlichen und zum 1. Januar 2020 erneut überarbeiteten Ordnung.
32 neue Fälle bekannt: Sieben Beschuldigte leben darunter noch
Im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2019 sind dem Erzbistum Paderborn von insgesamt 32 betroffenen Personen neue Anschuldigungen gemeldet worden. Es handele sich laut Erzbistum dabei um in Beschaffenheit und Schwere deutlich zu unterscheidende Tatvorwürfe.
Die benannten Zeiträume lägen lange zurück; die Beschuldigten seien zum überwiegenden Teil verstorben. Allein aus diesen Gründen seien die Tatvorwürfe kaum verifizierbar. Von den insgesamt 32 betroffenen Personen, die sich im genannten Zeitraum neu gemeldet hätten, seien 16 männlichen und 14 weiblichen Geschlechts.
Zwei der betroffenen Personen könnten keinem Geschlecht zugeordnet werden. Die Gründe dafür könnten vielfältig sein. Als Beschuldigte würden insgesamt 29 Personen benannt. Elf von ihnen seien verstorben und dem Erzbistum Paderborn aus anderen Vorwürfen bekannt gewesen.
Neun weitere Beschuldigte seien verstorben: Drei können nicht zugeordnet werden
Neun weitere seien verstorben und seien dem Erzbistum Paderborn noch nicht durch Beschuldigungen bekannt gewesen. Sieben seien am Leben; von ihnen befinde sich keiner im aktiven Dienst. Hierzu könnten zur Vorbeugung von Verstößen gegen Auflagen des Datenschutzes, die Wahrung der Persönlichkeitsrechte und die Verschwiegenheitspflichten als Dienstgeber keine weiteren Angaben gemacht werden.
Zwei Beschuldigte seien dem Erzbistum Paderborn namentlich nicht bekannt, weil die Betroffenen keine Namen hätten nennen konnten. Von den gemeldeten Anschuldigungen bezögen sich fünf auf den Zeitraum von 1946 bis 1949, keine auf den Zeitraum von 1950 bis 1959, zwölf auf den Zeitraum von 1960 bis 1969, vier auf den Zeitraum von 1970 bis 1979, eine auf den Zeitraum von 1980 bis 1989, sechs auf den Zeitraum von 1990 bis 1999, keine auf den Zeitraum von 2000 bis 2009 und eine auf den Zeitraum von 2010 bis zum 31. Dezember 2019.
Drei der gemeldeten Anschuldigungen könnten keinem genauen Zeitraum zugeordnet werden, von denen zwei vor 1970 liegen.