Hagen. In Hagen sind einer Hochrechnung zufolge rund 19.000 Menschen überschuldet. Welche Folgen das hat, erläutert Heike Obereiner von der AWO.

Deutschlandweit sind laut Schuldenatlas der Creditreform rund 6,9 Millionen Menschen überschuldet. Das entspricht einer Quote von zehn Prozent der Bevölkerung und würde bedeuten, dass in Hagen rund 19.000 Menschen überschuldet sind. Doch während die Überschuldungsquote deutschlandweit seit 2013 leicht rückläufig ist, ist sie in Hagen konstant bzw. leicht ansteigend. Wir sprachen mit Heike Obereiner (56), Schuldnerberaterin bei der Arbeiterwohlfahrt in Hagen.

Wohl die meisten Menschen verschulden sich in ihrem Leben irgendwann einmal. Wann spricht man denn von einer Überschuldung?

Heike Obereiner: Wenn in einem Privathaushalt das Einkommen und Vermögen aller Haushaltsmitglieder über einen längeren Zeitraum trotz Reduzierung des Lebensstandards nicht ausreicht, um fällige Forderungen zu begleichen. Wobei die Übergänge von einer Ver- zur Überschuldung fließend sind. Solange man seinen Kredit bezahlen kann, ist alles okay. Wenn das nicht mehr geht, hat man ein ernstes Problem.

Wie kann es so weit kommen?

Die Gründe sind unterschiedlich. Eine Krankheit, plötzliche Arbeitslosigkeit, ein zu niedriges Einkommen – es gibt ja genug Bürger in unserem Land, die arbeiten gehen, aber zu wenig verdienen. Auch steigende Mieten sind nicht immer vorhersehbar und können jemanden in die Überschuldung stürzen.

Können die Betroffenen nicht mit Geld umgehen?

Das kann man so nicht sagen. Überschuldung kann jeden treffen, gerade in Krisenzeiten, wenn auf einmal Kurzarbeit angesagt ist oder die Aufträge wegbrechen. Dann reicht das Einkommen plötzlich nicht mehr aus. Aber es gibt natürlich Menschen, die von Haushaltsführung und Wirtschaften nicht viel verstehen. Das sind ja keine Schulfächer. Sicher, die meisten von uns haben das Glück, dass sie bei ihren Eltern mitbekommen, wie man verantwortlich mit Geld umgeht. Aber eben nicht alle. Aber alles im Leben will gelernt sein, auch der Umgang mit Geld.

Ist Überschuldung denn eine Frage der sozialen Schicht?

In Hagen sind zwar zwei Drittel der Betroffenen, die zu mir kommen, Hartz-IV-Empfänger, aber das hat sicherlich auch mit der sozialen Lage der Stadt insgesamt zu tun. Grundsätzlich zieht sich das Phänomen Überschuldung durch alle Bevölkerungsschichten.

In Hagen ist die Lage also schlechter als anderswo?

Was die Überschuldungsquote angeht, liegt Hagen mit 16,69 Prozent weit hinten auf Platz 391 von 401 Plätzen in der Rangfolge der Kreise und kreisfreien Städte. Noch hinter Hagen liegen vier weitere Großstädte aus Nordrhein-Westfalen. NRW ist sicherlich ein Schwerpunkt der Überschuldung, und in Großstädten ist die Quote ohnehin höher. In Hagen ist die Arbeitslosigkeit relativ hoch, was natürlich ein geringes Einkommen bedingt. Logisch, dass sich auch das auf die Überschuldungsquote auswirkt. Übrigens belegt Eichstädt in Bayern mit einer Überschuldungsquote von 3,98 Prozent Platz 1 in der Rangfolge.

Verschärft die Corona-Krise das Problem?

Krisen bedeuten generell weniger Beschäftigung, damit weniger Einkommen und mehr Verschuldung. Noch liegen uns keine gesicherten Zahlen vor, doch bei mir haben sich bereits Menschen gemeldet, die wegen der Pandemie in Not geraten sind. Wenn keine Rücklagen vorhanden sind, passt es schon nach wenigen Wochen nicht mehr. Sicher, die Regierung macht es möglich, dass man Zahlungsaufschübe nutzen kann, Unterstützungsgelder erhält, Kredite und Mieten stunden kann. Aber irgendwann muss man das Geld zurückzahlen. Ja, ich erwarte auf jeden Fall, dass sich die Zahl der überschuldeten Haushalte durch Corona deutlich erhöht.

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Gibt es denn klassische Konsumgüter, deretwegen sich viele Menschen in Schulden stürzen?

Ja, allen voran die Produkte der Telekommunikation, Smartphones, PCs und so weiter. Sind wir doch mal ehrlich, die gehören zur Grundausstattung eines Menschen doch sozusagen dazu. UNd es steckt auch nicht unbedingt ein übertriebener Konsumwunsch dahinter. Viele Kunden lassen sich bei Verkaufsgesprächen verführen und schließen mehrere Verträge ab, manche verstehen gar nicht, um was es da geht oder sie können das Vertragswerk schlichtweg nicht lesen. Auf jeden Fall ist es immer hilfreich, frühzeitig Kontakt mit einer Schuldnerberatung aufzunehmen. Ich habe schon oft erlebt, dass mir auf die Frage, wann denn die Verschuldung eingesetzt habe, geantwortet wurde: Mit 18, seitdem ich Verträge machen kann. Ich tue mich schwer damit, jemanden zu verurteilen. der Begriff Schuld passt meiner Meinung nach überhaupt nicht zur Ver- bzw. Überschuldung.

Überschulden sich Frauen eher oder Männer?

Das hat mit dem Geschlecht nichts zu tun, egal in welche Statistik man guckt. Frauen verschulden sich ebenso häufig wie Männer.

Wie kann man denn nun aus der Schuldenfalle herausfinden? Was raten Sie?

Ein Kassensturz kann schon einmal sehr hilfreich sein oder ein Haushaltsbuch. Denn vielen Betroffenen ist gar nicht bewusst, wo ihr Geld hinfließt. Das bargeldlose Zahlen verführt natürlich auch dazu, mehr auszugeben als man hat. Es ist immer wichtig, die Übersicht zu behalten bzw. sie zurückzugewinnen. Dann sollte man ausloten, ob die Möglichkeit besteht, die Schulden in kleineren Raten zurückzuzahlen. Und es ist auch wichtig, ein Pfändungsschutzkonto einzurichten. Dagegen bringt es gar nichts, darauf zu hoffen, dass einem die Schulden erlassen werden. das geschieht in den seltensten Fällen. Wenn nichts mehr geht, bleibt noch die Verbraucherinsolvenz.

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Man erklärt sich zahlungsunfähig, oder?

Ja, wenn alle Forderungen zusammengestellt und überprüft wurden und ein außergerichtlicher Einigungsversuch mit den Gläubigern gescheitert ist, kann man mit Hilfe einer Schuldnerberatungsstelle oder anderen geeigneten Stellen ein Verfahren beim Insolvenzgericht beantragen. Das ist an verschiedene Bedingungen geknüpft, etwa an die Wohlverhaltsphase.

Abitur am Abendgymnasium

Heike Obereiner (56) wurde in Hagen geboren und absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten bei der Stadt Breckerfeld, für die sie anschließend auch einige Jahre tätig war.

Sie holte ihr Abitur am Abendgymnasium in Hagen nach und studierte Diplom-Oecotrophologie an der Universität in Gießen.

Nach Tätigkeiten für die Verbraucherzentralen Iserlohn, Düsseldorf und Wuppertal wechselte sie am 1. Februar 2019 zur Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt in Hagen.

Wer dazu in der Lage ist, muss sich um eine zumutbare Erwerbstätigkeit bemühen. aber am Ende steht der Schuldenerlass, danach haben die Gläubiger kein Recht mehr, die Schulden einzutreiben. Allerdings dauert solch ein Verfahren sechs Jahre, wenngleich eine Reform des Verbraucherinsolvenzverfahrens vorsieht, die Dauer zu verkürzen.

Und dann kann man neu beginnen?

Ja, für viele Menschen ist die Privatinsolvenz die einzige Möglichkeit, ihre Schulden loszuwerden. Ich kenne einige Betroffene, die dadurch neuen Mut geschöpft haben. Andererseits erfordert es Mut, diesen Schritt zu gehen. Übrigens: Bußgelder, Geldstrafen und dergleichen werden nicht entschuldet. Die muss man bezahlen – Privatinsolvenz hin oder her.