Hagen. Hat der göttliche Funke ausgedient? Der Musikinformatiker Prof. Dominic Becking aus Hagen über Versuche, Musik vom Rechner komponieren zu lassen

Ersetzt der Computer künftig das Genie? Im Beethoven-Jubiläumsjahr ergänzt derzeit ein Rechner das berühmte Fragment der unvollendeten 10. Sinfonie. Zwischen Angst und Entzücken warten die Musikfreunde auf die Partitur, die am 28. April vom Beethoven-Orchester Bonn vorgestellt wird. Auch der Datenbank-Spezialist und Musikinformatiker Prof. Dr. Dominic Becking (55) aus Hagen freut sich über das Projekt. „Ich bin super gespannt auf den emotionalen Eindruck, den das Ergebnis hinterlassen wird.“

Prof. Dr. Dominic Becking im Regieraum seines Medienlabors am Campus Minden der FH Bielefeld.
Prof. Dr. Dominic Becking im Regieraum seines Medienlabors am Campus Minden der FH Bielefeld. © Privat | Privat

Künstliche Intelligenz (KI) spielt in der Musik schon seit mehreren Jahren eine große Rolle. Längst werden viele Popsongs auf Youtube von Maschinen kreiert. Immer mehr neue Unternehmen weltweit beschäftigen sich mit der Anwendung von KI für das Musikgeschäft. Der Nutzer gibt an, in welchem Stil und in welcher Stimmung das Stück komponiert werden soll, und der Computer liefert die fertigen Noten. Doch klassische Musik ist wesentlich komplexer als Pop. „Es geht bei Beethovens ,Zehnter’ weniger darum, ein Kunstwerk zu kreieren als zu zeigen, was künstliche Intelligenz zu schaffen imstande ist, wenn man sie vernünftig einsetzt“, sagt Dominic Becking.

Der Computer sucht Muster

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Dem Computer ist es egal, ob er Tausende Melodie- und Harmoniemuster von Beethoven miteinander vergleicht oder die Tragwerkkonstruktionen von Gebäuden oder das Beweismaterial in Fällen von Kinderpornografie. Füttert man einen Rechner mit genug Material, im Falle von Beethoven mit Informationen über Noten, Klangfarben und Rhythmus, erkennt er Verbindungen und beginnt, ähnlich wie das neuronale Netzwerk im Gehirn, selbstständig neue Verbindungen zu schaffen. Deep Learning nennt man diesen Prozess.

Dominic Becking hält die Irritationen angesichts der Leistungen von KI für ein kulturelles Unbehagen: „Die Frage ist: Sind wir noch auf der Suche nach dem göttlichen Funken in der menschlichen Kreativität – oder sind wir durch Sozialisation darauf trainiert, Muster zu erkennen? Es scheint ein anthropologisches Merkmal zu sein, dass wir in Kompositionen nach bekannten Mustern suchen, deshalb haben es Free Jazz und Neue Musik so schwer.“

Genie entsteht durch Abweichung

Tatsächlich ist diese Sehnsucht nach bestimmten Mustern, zum Beispiel der typischen Abfolge von Spannung und Erlösung, die Ursache für die anhaltende Beliebtheit von Werken der klassischen Musik. „Beethoven könnte als besonders gutes Beispiel dafür dienen, so etwas darzustellen“, meint Prof. Becking. „Es gab lange Zeit das Diktum, dass Computer nur können, was Menschenentwickler ihnen aufgegeben haben. Inzwischen sind KI besser darin, Muster und Ähnlichkeiten zu erkennen als Menschen.“

Diese Feststellung mag die formalen Aspekte des Komponierens betreffen. Aber Genie entsteht bekanntlich durch Abweichung. Die bekanntesten Kompositionen der Welt zeichnen sich eben gerade dadurch aus, dass sie sich nicht an die Regeln, an die Muster, halten. „Tatata Taa“, das Motiv der Fünften Sinfonie, ist ein „unmögliches“ Thema. Beethovens Zeitgenossen sind regelrecht daran verzweifelt, wie aus drei wiederholten Achtelnoten und einer längeren halben Note eine ganze Sinfonie entstehen kann. Trotz aller Kritik wird das Schicksalsmotiv zum ersten großen und andauernden Welterfolg der Musikgeschichte und beeinflusst sogar die Rockmusik so nachhaltig, dass „Smoke on the Water“ ohne Beethovens „Fünfte“ undenkbar wäre.

Regelwidrige Themen

Würde einem Computer ein so regelwidriges Thema einfallen? An diesem Punkt zweifelt auch Dominic Becking, denn: „KI kann sehr schnell etwas erkennen, wie zum Beispiel eine Lamelle. Aber der Computer kann nicht erkennen, dass diese Lamelle Bestandteil eines größeren Zusammenhanges ist, etwa eines Lamellenvorhanges. Darin sind KI’s noch sehr schlecht.“ Dafür spricht auch, dass es noch nicht funktioniert, Computer Lyrik dichten zu lassen. Becking: „Bildsprache, das Spiel mit Bedeutungen, Referenzialität, so etwas überfordert den Rechner.“

Auf der anderen Seite gibt es seit der Aufklärung immer wieder Versuche, Musikkomposition zu automatisieren; vom Musiktheoretiker Johann Philipp Kirnberger stammt die wohl älteste Methode zum Komponieren mit Hilfe von Würfeln. Komponieren setzt so viel gedankliche Abstraktion voraus, dass den Komponisten das Denken in Strukturmodellen nahe liegt. „Ich vermute, dass es möglich ist, dass KI ein Stück schreibt, welches nach Beethoven klingt, aber nicht im Zusammenhang als Sinfonie funktioniert“, spekuliert der Informatiker über das Experiment mit der „Zehnten“. „Ob diese Musik in der Lage ist, die Menschen so tief zu berühren wie Beethoven, das wird sich zeigen. Die Entwicklung ist so rasant, dass ich mich nicht traue, in die Zukunft zu sehen.“

Musik macht den Menschen aus

Becking, der selbst Kontrabass und E-Bass spielt und an der FH Bielefeld Professor für Datenbanken und Informationssysteme ist, beschäftigt sich als Musikinformatiker mit praxisorientierter Forschung: „Wir haben derzeit ein Projekt, wo es darum geht, Menschen mit körperlichen Einschränkungen das Musizieren zu erleichtern, indem wir ein Interface, eine Schnittstelle Mensch-Maschine, zur Verfügung stellen.“ Denn von einer Sache ist der Wissenschaftler überzeugt: „Die unglaubliche gesellschaftliche und gesundheitliche Bedeutung der Musik wird nicht genug erkannt. Vielleicht ist Musik das, was uns als Menschen ausmacht. Alles andere können Tiere oder Maschinen auch.“