Hagen. Das Ballett Hagen bietet ein neues, ganz innovatives Format an. Ausgewählte Vorstellungen werden mit Gebärdensprache für Gehörlose begleitet

Auf der Bühne verkörpern gleich drei Tänzerinnen die Malerin Frida Kahlo, ihre Kunst und ihr ungezähmtes Leben. In der linken Seitenloge begleitet Sandra Görmann die Vorstellung mit dem Spiel ihrer Hände. Damit macht die 45-Jährige im Theater Hagen die Musik der Choreographie „Casa Azul“ für gehörlose Besucher verständlich. Gebärdentanz wird künftig regelmäßig zu ausgewählten Terminen im Ballett Hagen angeboten.

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Vor ihrem ersten Auftritt hat Sandra Görmann durchaus Lampenfieber. Schließlich handelt es sich um eine Premiere, nicht nur für die Mutter von drei Kindern, sondern auch für die Bühne. Ballettdirektorin Marguerite Donlon entwickelte die Idee am Staatstheater Saarbrücken, wo sie vor ihrem Wechsel nach Hagen das Ballett leitete. „Ich möchte die Tür öffnen für alle“, begründet Marguerite Donlon ihr Konzept. „Tanz ist eine Sprache, die jeder versteht, egal welche Muttersprache er hat. Aber gehörlose Menschen wissen nicht, welche Musik zu den einzelnen Szenen erklingt. Das wollen wir mit der Begleitung durch Gebärdensprache ändern.“

Gebärdensprache ist Bewegung

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In Saarbrücken kam der Gebärdentanz derart gut an, dass das Publikum sogar aus Mannheim und Ludwigshafen anreiste. „Sie hätte nie gedacht, dass sie mal ins Theater kommt, hat mir eine Besucherin gedankt. Die Gebärdensprache, das ist Bewegung, das ist für uns als Tänzer auch sehr schön.“Sandra Görmann ist mir einer gehörlosen Schwester aufgewachsen, daher hat sie die Gebärdensprache früh erlernt. „Meine Schwester war positiv überrascht von der Idee, Ballett zu übersetzen, so etwas hat sie noch nirgends erlebt. Sie wird mich in der Vorstellung per Videochat unterstützen.“

Sandra Görmann zeigt Gesten für Gebärdentanz

Geste für Tänzer

Geste für Erotik

Geste für Gefühl / Spüren

Geste für Angst/Herzklopfen

Geste für gut/schön

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Zusammen mit Marguerite Donlon und Ballettdramaturgin Waltraut Körver hat Sandra Görmann ein Video des Tanzabends „Casa Azul“ Szene für Szene studiert, um eine Übertragung für die Musik zu finden. Zu signalisieren: „Jetzt spielt die Violine“ würde Gehörlosen nicht helfen, die zum Teil noch nie ein Instrument klanglich erleben konnten. „Ich beschreibe die Atmosphäre der Musik, ist sie leidenschaftlich, fröhlich, aggressiv oder erotisch.“

Die Macht der Töne

Hauptberuflich ist Sandra Görmann bei der Caritas Alltagsbegleiterin und Demenzbetreuerin. Bei dieser Tätigkeit lernt sie viel über die Macht der Töne. „Musik ist die eine Sache, die uns Menschen bis zuletzt bleibt“, beschreibt sie ihre Erfahrungen mit Patienten, die keinen Zugang mehr zur realen Welt finden und dann plötzlich „Fiderallala“ summen, wenn Sandra Görmann ihnen die „Vogelhochzeit“ vorsingt. Eine Tochter ist im Jugendclub des Theater aktiv, die ganze Familie fühlt sich der Bühne verbunden.

Im Tanztheater erweitert Musik das Bild, liefert Atmosphäre und Energie als wichtige Erzählebene. In „Casa Azul“ geht es um seelische und körperliche Wunden, um Kraft und Schönheit, um Realität, Phantasie und Kunst, sogar um vertanzte Gemälde. Marguerite Donlon und ihr verstorbener Mann, der Jazzkomponist Claas Willeke, haben gründlich recherchiert, um das passende Tonbild dafür zu finden. Bekannte lateinamerikanischen Rhythmen, elektronische Kompositionen und historische Schlager schaffen einen Klangraum, der durch den Gitarristen und Sänger Luis González auf der Bühne noch einmal höchst poetisch verdichtet wird.

Sexy und lustig oder traurig und langsam

„Wir empfinden ja etwas, wenn wir Musik hören, das versuche ich zu vermitteln“, sagt Sandra Görmann. „Ist das ein schnelles, lustiges Lied oder ein trauriges? Die Musik ist sehr wichtig zum Verständnis, denn beim Ballett sind die Bewegungen oft nicht so eindeutig. Wenn man weiß, welche Emotion die Musik hat, kann man sich besser einfühlen.“ Grundsätzlich findet Sandra Görmann, dass in Deutschland für Gehörlose viel zu wenig getan wird. In anderen Ländern sei es selbstverständlich, dass zum Beispiel die TV-Nachrichten oder Ansprachen von Staatsoberhäuptern von Gebärdendolmetschern simultan übersetzt würden.

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Im Theater hingegen gibt es vermehrt Ansätze, Inszenierungen für ein gehörloses Publikum zugänglich zu machen, etwa an den Schaubühnen in Essen und Oberhausen. Im Bezug auf Tanz und Musik ist die Initiative von Marguerite Donlon jedoch singulär. Daher hofft die Ballettdirektorin, dass sich das Angebot herumspricht. Am 18. April wird es eine weitere Vorstellung von Casa Azul mit gebärdensprachlicher Begleitung geben. Im Sommer sind zwei Termine für Schwanensee geplant. Denn nichts wünscht sich Marguerite Donlon so sehr, wie Theater zu machen, dessen Türen weit geöffnet sind.

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