Hagen. . Die „Ritchie Boys“ waren Spezialkräfte der US-Armee. Sie waren auch in Hagen im Einsatz. In Firmen und auf der Suche nach Nazi-Größen.

Teile der Hagener Kriegs- und frühen Nachkriegsgeschichte müssen neu geschrieben werden. Denn über die Besetzung der Stadt Hagen am 15. April 1945 hat der Hagener Historiker Dr. Ralf Blank jetzt weitere Details herausgefunden. So wurde die Stadt nicht wie bislang angenommen von der 86. Infanteriedivision aus Richtung Süden erobert. Zeitgleich drangen von Westen her die 8. Infanteriedivision und die 5. Infanteriedivision von Osten vor. Unterstützt wurden die Einheiten dabei von den sogenannten „Ritchie Boys“.

Dabei handelt es sich um Spezialkräfte, die in Camp Ritchie in den USA ausgebildet wurden – zumeist Auswanderer aus Deutschland oder Österreich, darunter viele Juden. „Die Aufgabe dieser kleinen und sehr mobilen Einheit bestand darin, unmittelbar vor oder nach der Eroberung wichtige Gebäude zu sichern“, so Blank, „sie sichteten und beschlagnahmten Dokumente und sie nahmen Personen fest, die die Alliierten für wichtig hielten. Es war quasi die Speerspitze des US-Geheimdienstes.“

Im US-Nationalarchiv geforscht

Zur Erkundung der Accumulatorenfabrik in Hagen wurden im Zweiten Weltkrieg Ritchie Boys eingesetzt. Die Truppe bildete die Speerspitze des US-Geheimdienstes. Das Foto zeigt das zerstörte Batterienwerk in Wehringhausen (Varta, Hawker).
Zur Erkundung der Accumulatorenfabrik in Hagen wurden im Zweiten Weltkrieg Ritchie Boys eingesetzt. Die Truppe bildete die Speerspitze des US-Geheimdienstes. Das Foto zeigt das zerstörte Batterienwerk in Wehringhausen (Varta, Hawker). © Stadtarchiv Hagen

Der Leiter des Fachdienstes Wissenschaft, Museen und Archive hat zuletzt im Nationalarchiv der USA geforscht, selbst zahlreiche Berichte gesichert und jetzt ausgewertet. Danach steht fest: Am Abend der Besetzung trafen zwei Teams in Hagen ein. Weil sie per Funk angekündigt worden waren, konnten sie sich relativ frei in der Stadt bewegen. Bereits im Vorfeld der Besetzung waren mögliche Ziele festgelegt und klassifiziert worden. Weit oben auf dieser Liste stand die Accumulatorenfabrik (heute Hawker) in Wehringhausen, die sich auf die Produktion von U-Boot-Batterien spezialisiert hatte.

Das sogenannte Target Team Nummer 7 sicherte die Ruine der Kreisleitung der NSDAP, das Team 11 kurze Zeit später gegen 21 Uhr die Accumulatorenfabrik in Wehringhausen. Während sich der Leiter Morris B. Parloff mit seinem Stellvertreter Richard Schifter und seinem Team einen ersten Überblick verschaffte, sicherten zwölf Soldaten das Gelände. Am folgenden Tag rückten weitere Spezialisten an, die bis zum 29. April Informationen über die Produktion sammelten, alle greifbaren Unterlagen

 Dr. Ralf Blank, Fachdienstleiter Wissenschaft, Museen und Archive der Stadt Hagen.
Dr. Ralf Blank, Fachdienstleiter Wissenschaft, Museen und Archive der Stadt Hagen. © Michael Kleinrensing

sicherten und den Zustand des Betriebs dokumentierten. Dokumente, Schriftverkehr, Zeichnungen und Informationen wurden zur Auswertung in die USA versandt. Allerdings waren zahlreiche Unterlagen vor dem Einmarsch von US-Truppen verbrannt und durch Plünderungen vernichtet worden. „Insgesamt“, so Blank, „dauerten die Untersuchungen durch Nachrichtendienste bis 1947. Die Produktion selbst lief am 12. Mai 1945 bereits wieder an, was durchaus einem gewissen Eigennutz geschuldet war.“

SS-Hauptquartier gesucht

Die „Richie Boy“ setzten noch in der Nacht ihre Tour durch Hagen fort. „Von 21.30 Uhr bis in die frühen Morgenstunden des 16. April suchten sie das Hauptquartier der SS-Standarte 69 und den Sitz des Standortältesten der Wehrmacht sowie die Hagener Dienststellen des SD und der Gestapo auf“, so Ralf Blank. Die Gebäude aber waren durch Bombenangriffe stark in

 Das Foto zeigt einen Offizier der U.S. Navy im Hagener AFA-Werk an einer Presse für Elementkästen aus Hartgummi, die für Torpedo-Batterien verwendet wurden.
Das Foto zeigt einen Offizier der U.S. Navy im Hagener AFA-Werk an einer Presse für Elementkästen aus Hartgummi, die für Torpedo-Batterien verwendet wurden. © Stadtarchiv Hagen

Mitleidenschaft gezogen und zum Teil komplett zerstört worden. In den Ruinen fanden sich kaum verwertbaren Unterlagen. „Andere Dienststellen“, so Blank, „waren vor dem Eintreffen der US-Truppen systematisch geräumt worden, so dass auch dort keine Dokumente mehr vorhanden waren.“ Ausweichquartiere, wie der im Januar 1945 eingerichtete Dienstsitz der Gestapo im Landgerichtsgebäude und die seit März 1945 genutzte Gaubefehlsstelle Westfalen-Süd im Hotel Dresel im Volmetal bei Rummenohl seien den Teams nicht bekannt gewesen.

Wichtige Einrichtungen besetzt

Am 16. April befragten die Mitglieder der Target Teams Menschen, die sie in den Betrieben, in den Gebäuden, manchmal aber auch nur in der Nähe auf der Straße trafen. „Bis in die Abendstunden des Tages erfolgten die

Das Bild zeigt einen Offizier der U.S. Navy vor einer riesigen Halde aus Bleiplatten. Sie wurden zwischen November 1944 und Februar 1945 aus Batterien und Zellenelementen aus U-Booten entnommen, die zum Austausch an das Hagener Werk gesandt worden waren. 
Das Bild zeigt einen Offizier der U.S. Navy vor einer riesigen Halde aus Bleiplatten. Sie wurden zwischen November 1944 und Februar 1945 aus Batterien und Zellenelementen aus U-Booten entnommen, die zum Austausch an das Hagener Werk gesandt worden waren.  © Stadtarchiv Hagen

Aufklärung und Sicherung der über das Stadtgebiet verteilten zweit- und drittrangig eingestuften Einrichtungen und Betriebe“, so Blank. „Angehörige des Enemy Equipment Intelligence Service (EEIS) besetzten in Hagen die Kommunikations- und Versorgungsbetriebe, wie die Hauptpost, das Telegrafenamt, Telefongesellschaften und Nachrichtenzentralen.“

Die Mitarbeiter der Accumulatorenfabrik durften nach der Besetzung das Werksgelände nicht mehr betreten. Drei Tage später vermerkte der Verwaltungsangestellte Bernhard Petersen folgendes: „Gearbeitet wird nirgendwo, denn die Betriebe sind entweder zerstört oder liegen infolge der Ereignisse still. Meine Firma ist von Amerikanern besetzt.“ Allerdings scheint die Aussperrung des Personals bis zum Eintreffen von spezialisierten Technikern (U.S. Naval Technical Mission) am 28. April 1945 bereits wieder gelockert worden zu sein.

Noch am 17. April besichtigten die „Ritchie Boys“ mit Spezialisten die Sprengstoff-Fabrik im Sterbecker Bachtal in Rummenohl. Sie stellten ihre Untersuchungen erst zum Monatsende ein. „Allerdings ist den Unterlagen nicht zu entnehmen, was dort eigentlich vorgefunden wurde“, so Blank.

Suche nach Oberbürgermeister

Am selben Tag ging eine Einheit dazu über, nach dem Hagener

Hagener Historiker lehrt an der Ruhruniversität Bochum

Der Historiker Dr. Ralf Blank steht in Diensten der Stadt Hagen und ist Leiter des Fachdienstes Wissenschaft, Museen und Archive. Gleichzeitig ist er Lehrbeauftragter und Dozent am Historischen Institut der Ruhruniversität Bochum.

Blank hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Publikationen herausgebracht. Darunter sind die Bücher „Bitter Ends – die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs im Ruhrgebiet“, „Die Ruhrschlacht – das Ruhrgebiet im Kriegsjahr 1943“ und „Hagen im Zweiten Weltkrieg“.

Oberbürgermeister Heinrich Vetter zu suchen. Vetter war gleichzeitig stellvertretenden Gauleiter in Westfalen-Süd. Er hatte noch in den Mittagsstunden des 14. April 1945 in einer letzten Besprechung im Hof des Rathauses von der Wehrmacht und der Polizei die Verteidigung der Stadt „bis zum letzten Mann“ gefordert. „Doch schon am Abend dieses Tages zog er es vor, sich ins märkische Sauerland abzusetzen“, so Ralf Blank. Am 24. April wurde er in seinem Versteck auf einem Bauernhof bei Halver durch US-Truppen aufgegriffen.