Hagen. . 100 Jahre ist es her, dass der Erste Weltkrieg endete. In Hagen überschlugen sich die Ereignisse. Es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände.

Immer mehr Menschen in Hagen haben nicht genug zu essen und hungern. Weil er Aufstände befürchtet, will der Oberbürgermeister das Militär anfordern. Aufgrund des gravierenden Kohlemangels fehlt es an Heizmaterial; in den Betrieben steht, da häufig der Strom ausfällt, die Produktion immer wieder still.

Diese Zustände schildern nicht das Dasein im Hagen der Gegenwart. 100 Jahre ist es her, dass die Menschen in der Stadt ums Überleben kämpften, sich die politischen Lager in erbitterter Feindschaft gegenüberstanden und es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kam.

Blanke Not

Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, und noch war nichts zu spüren vom Aufbruch der Weimarer Jahre. In Hagen herrschte die blanke Not. Für viele Menschen ging es wirklich ums Überleben, berichtet der Historiker Dr. Ralf Blank, Leiter des Fachdienstes Museen, Wissenschaft und Archiv. Wir tauchen ein in jene Zeit, deren Folgen bis heute zu spüren sind.

Noch am 11. November 1918, dem Tag, an dem im Wald von Compiègne der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet wurde, übernahm in Hagen ein Arbeiter- und Soldatenrat die Kontrolle über die Stadtverwaltung. Auch in Haspe, Vorhalle und Hohenlimburg, die damals noch nicht zur Stadt Hagen gehörten, kamen Arbeiter- und Soldatenräte an die Macht.

Oberbürgermeister bleibt im Amt

Deren Vertreter griffen jedoch nicht in das tägliche Verwaltungsgeschäft ein, sondern verstanden sich eher als Garanten für die Abschaffung der Monarchie und die Einführung einer sozialistischen Republik. Sogar Oberbürgermeister Willi Cuno durfte im Amt bleiben, zumal die Räte um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bemüht waren. „Da die Verwaltungskosten groß sind, zahle jeder pünktlich seine Steuern“, hieß es in einem von dem Arbeiter Hugo Israelski unterzeichneten Aufruf an die Bevölkerung in Vorhalle: „Die Lebensmittelverteilung geschieht weiter auf dem Wege der Rationierung.“

Denn die angespannte Versorgungssituation verschärfte sich von Tag zu Tag. Nicht nur Nahrungsmittel, auch Gas, Wasser und Elektrizität waren laut Blank im gesamten Stadtgebiet wegen Kohlemangels rationiert: „Die Lebenshaltungskosten der Hagener Bevölkerung stiegen stark an, Hunger und Arbeitslosigkeit bestimmten den Alltag in vielen Familien, die vielfach keine Zukunftsperspektive mehr sahen.“ Hinzu kamen Wohnungsnot sowie wachsende soziale Probleme.

Waffen im Wasser versenkt

Zahlreiche Hagener Soldaten kehrten in diesen Tagen aus dem Krieg nach Hause zurück. Exemplarisch für sie alle mag das Schicksal des Haspers Emil Stöcker stehen, der zweimal für tot bzw. vermisst erklärt worden war. Sein Enkel Rainer Stöcker hat dem Schicksal des Großvaters eine fesselnd geschriebene Biographie gewidmet („Die zwei Leben des Emil S.“, 248 Seiten, Röhrig-Verlag). Viele Truppenverbände hätten bei der Demobilisierung ihre Waffen einfach in Ruhr, Lenne, Volme oder den angrenzenden Wäldern entsorgt, so Blank: „Im Mai 1919 musste ein Feuerwerker große Mengen von in der Ruhr bei Hengstey gefundenen Granaten und Geschossen bergen und vor Ort sprengen.“

Viele dieser traumatisierten Männer mischten sich in die unübersichtliche politische Lage ein, die geprägt war von offenen Kämpfen zwischen rechtsextremen, sozialistischen, republikanischen und monarchistischen Kräften. In den Novembertagen war Hagen einer der Hauptschauplätze dieses Bürgerkriegs, denn im Volmetal bei Ambrock und Dahl quartierte sich ein 800 Mann starkes, nach seinem Kommandeur Otto Lichtschlag benanntes Freikorps ein, das über schwere Waffen und Artillerie verfügte und seine Versorgung sicherte, indem es bei Bauern in der Umgebung die Lebensmittel requirierte.

Gefechte in Delstern und Eilpe

Hervorgegangen war das Freikorps aus dem 40. Reservekorps des deutschen Heeres, das in Hagen über Plakate und Zeitungsinserate Freiwillige zum Schutz der deutschen Ostgrenzen suchte. Diese Werbung war einigermaßen erfolgreich, doch wurde das Freikorps nicht gen Osten entsandt, sondern blieb, vermeintlich zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, in Hagen.

Dieses Nebeneinander des traditionellen militärischen Apparates und der aus der Revolution hervorgegangenen Räte konnte auf Dauer nicht gut gehen. Am 9. Januar 1919 kam es in Eilpe und Delstern zu einem Gefecht zwischen den verfeindeten Seiten mit fünf Toten und mehreren Verletzten. „Der bedauerliche Vorgang hat mit irgendwelchen politischen Vorgängen, spartakistischen Unternehmungen oder Putschversuchen, wie vielfach in der Bürgerschaft geglaubt wurde, nichts zu schaffen“, versuchte Oberbürgermeister Cuno, der sich allmählich aus der Abhängigkeit der Arbeiter- und Soldatenräte befreite, die Gemüter in der Stadt zu beruhigen.

Ausnahmezustand verhängt

Doch während die Räte tatsächlich im Laufe des Jahres 1919 aufgelöst wurden, kehrte das Freikorps Lichtschlag nach Hagen zurück und lieferte sich mehrere Feuergefechte mit linksgerichteten Arbeitern und Parteifunktionären. „Aufständische Arbeiter stürmten am 9. April das Hagener Polizeigefängnis in der Prentzelstraße, um inhaftierte Genossen zu befreien“, beschreibt Blank die Ereignisse.

November-Revolution führt zur Republikgründung in Deutschland

Der Erste Weltkrieg endete am 11. November mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes im Wald von Compiègne/Nordfrankreich. Zu den Siegern gehörten u.a. Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA, zu den Verlierern Deutschland, Österreich-Ungarn u.a.

Im Deutschen Reich brach in jenen Tagen die November-Revolution aus. Hauptschauplatz war Berlin. Die Regierung verkündete die Abdankung von Kaiser Wilhelm II., der Sozialdemokrat Friedrich Ebert wurde Regierungschef. Sein Parteigenosse Philipp Scheidemann rief die Republik aus.

Durch die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung am 2. März 1919 wurde dem Arbeiter- und Soldatenrat in Hagen weitgehend die Legitimation entzogen. Bei den Wahlen zum Arbeiterrat vier Wochen später war die Wahlbeteiligung denn auch ausgesprochen gering.

Die Regierung verhängte zunächst den Belagerungs- und später den Ausnahmezustand über Stadt und Landkreis Hagen. „Erst am 26. Mai wurde der Belagerungszustand unter maßgeblicher Beteiligung von Oberbürgermeister Cuno aufgehoben und die Freikorps zogen ab.“

Immer wieder heftige Gefechte

Auch in der Folgezeit flammten in Hagen infolge des Kriegsendes und der revolutionären Wirren gewalttätige Konflikte auf. Im Januar 1920 streikten die Eisenbahner in der Stadt und legten den Zugverkehr neun Tage lang lahm, im März gab es eine Massenkundgebung auf der Springe, die Arbeiter wurden bewaffnet, um dem reaktionären Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin entgegenzutreten. Immer wieder gab es heftige Gefechte mit dem Freikorps Lichtschlag, ehe dieses am 17. März in Herdecke entwaffnet und aufgelöst wurde.

Die Lebensumstände der Bevölkerung entschärften sich dadurch freilich nicht. Noch bis 1923 war das Leben in Hagen geprägt von hohen Lebenshaltungskosten, Hunger, Kohle- und Energiemangel, von Streiks und politisch motivierter Gewalt. Dann folgte ein zarter Aufschwung, ehe mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein noch düstereres Kapitel der Stadtgeschichte begann.