Boele. . An der Strecke des Boeler Karnevalszuges blicken 35 000 Menschen mit ihrem ganz eigenen Blick auf das Geschehen. Geschichten vom Wegesrand.
Die Straße schmatzt am Johannes-Hospital. Jedes Mal, wenn ein Jeck einen Fuß vor den anderen setzt und in das Gemisch aus Bier, Sekt und zertretenen Klümpchen latscht. Dazu das Kratzen und Bollern von weggeschossenen Getränkedosen. Der Zug ist noch gar nicht da. Noch ist er nur ein ungeordnetes Wummern, Brummen und Dröhnen von Bässen etwa zwei Häuserblocks weiter. Kinder sind bereit zur Jagd auf Bonbons. Angetrunkene Piloten sind bereit zur Jagd auf angetrunkene Röttkäppchens – oder wie immer auch der Plural davon sein mag. Es gibt Berliner Ballen zum Mittag. Und eine Million Hagaus. Auch wenn die Polizei am Boeler Krankenhaus zwischendurch ordentlich aufräumen musste und 21 Jugendliche ins Gewahrsam brachte – es blieb friedlich bei diesem Zug, den 35.000 Menschen durch 70.000 Augen betrachteten. Jeder aus seinem eigenen Blickwinkel.
Die Damen am Fenster
Es sind die ersten zehn Meter, die der Zug traditionell rollt. Dann kommt er an der Straßenecke Schwerter Straße/Hagener Straße vorbei. An einem beachtenswerten Schlafzimmerfenster. Dort stehen die 90-jährige Ursula Erlmann, die 87-jährige Hanni Brauer und die 90-jährige Margarete Wehner, deren Schlafzimmer das hier ist. Die Bonbons prasseln gegen die Fensterrahmen und die drei Damen reichen Bekannten unter den Feiernden ein Pinnchen Selbstgebrannten hinaus. „Wir sind die älteste Party in Boele“, scherzt Hanni Brauer. „Wenn der Zug vorbei ist, gibt es noch einen Kaffee und einen Sekt und dann ab nach Hause.“
Die drei Damen am Fenster gehören zum Zug wie der Zylinder auf den Kopf des Oberloßrocks. „Warum das hier bei uns in Boele was Besonderes ist, wollen Sie wissen? Weil man sich in diesem Stadtteil kennt. Man kennt die Großeltern, die Kinder, die Geschwister von fast jedem. Und es macht große Freude, sie alle zu sehen“, sagt Wehner. Einen Schluck Selbstgebrannten müssen wir aus dienstlichen Gründen ablehnen. Aber der nächste Jeck huscht draußen vorbei, der ihn dankend nimmt.
Die Männer in Orange
Soll man den Jungs danken oder muss man eine mitleidiges Gesicht ziehen? 20 Männer, die etwa 1000-mal den genialen und noch nie gehörten Spruch, ach was: Wahnsinns-Witz zu hören kriegen: „Stark, ihr geht ja als Müllmänner.“ Nun ja, gehen sie ja auch. Mit dem feinen Unterschied, dass ihre verkleideten Doppelgänger am Straßenrand später nicht sechs Tonnen Müll beseitigen müssen, sondern in irgendeine Boeler Kneipe gehen. An dieser Stelle keine blöden Sprüche, sondern aufrechte Worte: Ihr Männer vom Hagener Entsorgungsbetrieb, vielen für eure saubere Arbeit.
Der Traktorfahrer
Christoph Külpmann freut sich schon, in wenigen Minuten den Motor zu starten. Zum zweiten Mal zieht er die Vorhaller Tollität Dennis I. mit seinem Trecker durch die Boeler Gassen. Bei seinen Fahrgästen ist er nicht wählerisch, hatte der Hengsteyer doch zuvor die Karnevalsrocker „De Drömmelköppe“ am Haken. „Es macht einfach Spaß, ein Teil des Zuges zu sein und die vielen Leute zu sehen, die einem zuwinken“, findet der 29-Jährige.
Die Jugendlichen
Marc Biesemann, 19 Jahre alt, Lehramtsstudent. Er und sein rund 40-köpfiger Freundeskreis geben am Boeler Krankenhaus jedes Jahr Gas. „Die Büsche und Bäume an der Wiese gegenüber vom Krankenhaus sind voll besetzt mit Jungs. Was die Mädchen in so einer Situation machen, ist mir bis heute ein Rätsel“, beschreibt Biesemann die Szenen, wenn etliche junge Männer dem starken Harndrang nachgeben müssen. Die Gruppe um den 19-Jährigen gehört zu jenen, die zwar kräftig feiern, sich dabei aber im Griff haben. „Wir machen den Helfern des Zuges keine Probleme.“ Biesemann und seine Freunde genießen es, gleichaltrige Bekannte zu treffen und unbeschwert miteinander zu feiern. Er gibt übrigens den Tipp, ein Karnevalshandy zu benutzen, das notfalls auch mal kaputt gehen kann. Weitergefeiert wurde abends übrigens im Vereinshaus Boelerheide.
Die Flüchtlinge
Die Syrer Aboud und Jacklin sind mit ihren Kindern vor knapp drei Jahren aus Syrien geflüchtet und leben seither in Hagen. Sie schauen sich das bunte Treiben gemeinsam mit ihren drei Kindern Jessi (9), Joyce (11) und Giorgio (2) erstmals vom Straßenrand an. Die Familie kommt aus Aleppo, wo Karneval anders gefeiert wurde. „Da feiern die Menschen in den Kirchen Anfang Dezember, aber ohne Kostüme und Süßigkeiten“, erzählt Jacklin. Da wundert es nicht, was die Kinder Jessi und Joyce beim Feiern in Boele am besten finden. „Hauptsache Süßigkeiten und Verkleidung“, meint Jessi, die als Prinzessin geht
Die Fortgezogene
Verena Kienel ist ein Hagener Mädchen. Genauer gesagt: ein Eilper Mädchen. „Der Straßenkarneval in Boele ist für mich unverzichtbar“, sagt die 35-Jährige. Und das obwohl sie seit elf Jahren im Ausland lebt und arbeitet. Zehn Jahre lang war sie für eine Investmentbank in London tätig, nun arbeitet sie in Luxemburg. Jedes Jahr setzt sie sich kurz vor Weiberfastnacht in den Flieger oder ins Auto und kommt nach Hagen – oder besser gesagt: nach Boele. „Wir stehen beim Zug an der Osthoffstraße, danach geht es in die „Tute“ und dann ins Vereinshaus Boelerheide. Die Verbundenheit, die bekannten Gesichter und die Freude – für mich ist das Tradition, Heimat und ein echtes Gefühl.“
Die Neugeborenen
„Fast jedes Jahr kommt im Moment im Freundeskreis ein neues Kind dazu, das mit großen Augen die bunten Kostüme bestaunt. Im Straßenkarneval kann man der Fantasie einmal freien Lauf lassen und in eine andere Rolle oder Figur schlüpfen“, sagt die Boelerheiderin Patricia Riesner, der es wichtig ist, die Tradition des Karnevals an ihre Kinder weiterzugeben. „Wir würden uns freuen, wenn unsere Kinder diese Tradition im Kreise der Familie und den Freunden in der Zukunft beibehalten würden.“ In diesem Jahr erlebt das zweite Kind der Riesners, der kleine Enno, den Boeler Karneval zum ersten Mal mit.
Die Helfer
Der Bereich rund um das Boeler Krankenhaus war ein Einsatzschwerpunkt in diesem Jahr für die Hagener Polizei. Sie war mit mehr Kräften als üblich dort vertreten und 21-mal gewann man leider auch den Eindruck, dass das die richtige Entscheidung war. Für die Betroffenen ging es ins Gewahrsam. Viele jugendliche Jecken schießen mit Bier und Schnaps über das Ziel hinaus und vergessen schnell, dass sie morgens eigentlich als lustige Clowns, Kängurus oder Comic-Figuren aus dem Haus gegangen waren.Dank an die Hagener Einsatzkräfte, die alle Hände voll zu tun hatten. Und Dank an all jene jungen Leute am Krankenhaus, die ordentlich Gas gegeben haben, sich dabei aber benommen haben. Die waren nämlich in der großen Überzahl.