Hagen. Ein besonders bewegendes Flüchtlingsschicksal, das in Hagen sein vorläufiges Ende gefunden hat. Kausara und Adnan Abdullah mussten Syrien mit ihren Kinder verlassen. Sie sagen: „Danke, Deutschland.“

Ein Anruf. Ein einziger Anruf. Danach war nichts mehr wie vorher. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass die kleine Rangin, damals 10, und ihr Bruder Sulian (7) mit ihren Eltern Kausara und Adnan Abdullah zu einer Demo aufbrachen. In Syrien, wo die Familie lebte, ist das für Kurden wie sie gefährlich. Lebensgefährlich. Der Vater, im Dorf Qamshlu ein angesehener Mann, will dafür sorgen, dass es nicht zu Ausschreitungen kommt, und nimmt die Kinder mit. Dann klingelt das Handy – und ein Onkel warnt: „Die Miliz ist hier. Sie suchen nach Dir.“

Qamshlu liegt im Nordwesten Syriens. Fast alle Dorfbewohner hier sind Kurden, gehören zur nichtarabischen Minderheit, die vom eigenen Staat als Ausländer betrachtet werden. Adnan Abdullah zögert nicht lange. Mit nichts als dem, was er und seine Familie auf dem Leib tragen, verlassen sie sofort die Demo, die Stadt, das Land. Die Abdullahs lassen alles zurück: Ihr Haus, ihre Freunde, ihren Besitz – und vor allem: Den erst 13-jährigen Sohn Zana und seine kranke Großmutter, um die er sich kümmern sollte, während der Rest der Familie zur Demo für Menschenrechte aufbrach.

Angst und Einsamkeit

Zweieinhalb Jahre später sitzen die Abdullahs endlich wieder vereint gemeinsam auf einer Couch; in einer hellen, aufgeräumten, wenn auch karg eingerichteten Wohnung, mitten in Hagen. Fast ein Wunder. Der Zuwanderungsberatung der Diakonie ist es zu verdanken, dass nach Jahren des bangen Wartens Zana und seine Oma Halima endlich nachreisen durften; sie unterstützte die Familie bei der Orientierung in der deutschen Bürokratie, vermittelte Sprachkurse, Kontakt zu Schulen, einen Anwalt.

„Wir sind so dankbar. Ich möchte Deutschland Danke sagen!“ Großmutter Halima hat Tränen in den Augen. Die winzige, zierliche Frau spricht als einzige in der Familie kein Deutsch, wird es wohl auch nicht mehr lernen, denn sie ist Analphabetin. „Ich bin eine alte Frau…“ Das Leben hat sie gezeichnet, die Falten in ihrem Gesicht sind tief – doch wenn sie lacht, so wie jetzt, dann geht einem das Herz auf. Wen stört es eigentlich, dass sie ein Kopftuch trägt, die traditionelle Kopfbedeckung einer Muslima?

Warum vor den Kindern schweigen?

Halima erzählt mit leiser Stimme von der Angst und der Einsamkeit, die sie auf der Flucht quer durch Syrien, den Libanon und schließlich die Türkei erlebt hat. Allein mit der Verantwortung für den Enkel, immer in Angst. Die Sorgen einer Großmutter, einer Mutter – sie sind international, interreligiös – und ohne Worte zu verstehen.

Das Syrien ihrer Jugend, das gibt es schon lange nicht mehr. „Es war ein wunderschönes Land. Im Sommer heiß und trocken – aber im Frühling, da war alles grün.“ Vor vier Jahren kam der Krieg ins Land. Was wir im Westen mit dem poetischen Namen „Arabischer Frühling“ versehen haben, ist für die Menschen in den betroffenen Ländern ein Alptraum: Erst gibt es keinen Strom mehr, dann bricht die Wasserversorgung zusammen – und schließlich fallen alle Regeln der Zivilisation. Eine Cousine, so jung wie Zana, stirbt durch eine Kugel, ihr Begleiter wird mit Benzin übergossen, eingesperrt, angezündet. Die Familienmitglieder sitzen jetzt dicht beieinander, als sie davon erzählen. Warum vor den Kindern schweigen? Sie haben es ja alles erlebt; Schweigen macht nichts ungeschehen.

Ein fremdenfeindliches Deutschland - nein

Es ist ein unaufgeregter Umgang mit dem Grauen, den man kaum nachempfinden kann. Die Abdullahs verdrängen die Vergangenheit nicht – vielleicht gelingt ihnen gerade deshalb der Weg in die Zukunft so gut. Kaum in Deutschland, haben sie sich sofort für alle Sprachkurse angemeldet, die das Gastgeberland ihnen ermöglicht. Denn zurück nach Syrien – das kommt wohl nicht in Frage. Ihr Asylantrag wird schnell genehmigt; als anerkannte Flüchtlinge haben sie nun einen blauen Pass, dürfen sich eine Wohnung mieten, Arbeit annehmen. Sie wussten nicht mehr über Deutschland, als die Leser dieses Textes vermutlich über Syrien wissen. „Nie im Traum hätte ich gedacht, dass ich einmal hier leben würde“, erzählt Mutter Kausara. Und dann schwärmt die 36-jährige: Von der netten Nachbarin, die ihr so viel geholfen hat, und für die sie manchmal kocht. Von den tollen Menschen, die ihr das Sofa, den Tisch, fast alles in der Wohnung geschenkt haben. Ein fremdenfeindliches Deutschland – nein, das hat sie, gottlob, nicht erlebt.

Chance auf ein gutes Leben

Die Kinder haben sich gut eingelebt. Rangin besucht die Realschule, möchte Ärztin werden, ihre Brüder gehen aufs Gymnasium. Äußerlich unterscheiden sie sich kaum von einheimischen Teenagern; das Handy beherrschen sie ohne hinzusehen, die Klamotten sollen möglichst cool sein. Vielleicht sind sie etwas höflicher, als andere Kinder in ihrem Alter, auf jeden Fall nachdenklicher. Was sie gerne mitgenommen hätte, damals, als sie so überstürzt aufbrechen mussten? Rangins Stimme ist kaum noch wahrnehmbar. „Ach, nichts Bestimmtes. Aber… das alles. Ich vermisse meine Freundin Shilan, wir waren beste Freundinnen.“ Mit ihr schreibt sie sich übers Handy, wenn das Netz in Syrien es zulässt.

Früher, wenn sie nachts wegen der Hitze auf dem Flachdach in Qamshlu lagen, konnten sie die Raketen hören und die Schüsse, die immer näher kamen. Damals war die Angst allgegenwärtig, und die Zukunft lag in weiter Ferne. Nun soll sie endlich beginnen, wünscht sich Mutter Kausara. „Wären die Kinder nicht – wir wären wohl in Syrien geblieben. Aber sie sollen doch eine Zukunft haben. Wenigstens die Chance auf ein gutes Leben . . .“