Ennepetal. . „Alkoholiker sind die größten Lügner und Täuscher“, behauptet Wolfgang Dieckmann. Er muss es wissen. Der 59-Jährige war früher selbst abhängig vom Alkohol. Heute ist Wolfgang Dieckmann Kreisvorsitzender des Kreuzbundes in Ennepetal.

Um 4 Uhr am frühen Morgen klingelte der Wecker, noch im Bett öffnete er den ersten Flachmann, setzte an und hoffte, dass der scharfe Schnaps im Magen bleibt. Blieb er meist nicht. Er erbrach sich, setzte wieder die Flasche an. Um sieben Uhr rief er ein Taxi. Das machte Halt an zwei weit von einander entfernten Büdchen, um genug Schnaps für den Tag zu kaufen – falls er einmal nicht an eins der vielen Verstecke kommen sollte, die er sich in Kellerecken und Fenstervorsprüngen an seinem Arbeitsplatz geschaffen hatte. 40 Meter lang war der Kellerraum, daran erinnert sich Wolfgang Dieckmann, „optimal für meine Zwecke.“

Wolfgang Dieckmann sucht die Öffentlichkeit

Dreckig ging es ihm, zur Arbeit schaffte er es trotzdem. Gemerkt hat niemand etwas. „Alkoholiker sind die größten Lügner und Täuscher, die es gibt“, sagt Dieckmann, der gerade seinen Tagesablauf in den letzten, den schlimmsten Wochen­ seines Lebens als Abhängiger geschildert hat.

Heute sitzt Wolfgang Dieckmann im gemütlich, aber praktisch eingerichteten Mehrzweckraum des Kreuzbundes in Ennepetal, zu deren Kreisvorsitzender er gerade gewählt wurde. Eine Küche, helle Möbel, ein Blümchen auf dem Tisch. Nebenan im großen Raum treffen sich die Mitglieder der örtlichen Gruppe zu ihrer wöchentlichen Sitzung. In der Gruppe war man skeptisch, ob externer Besuch, eine Besucherin mit Block und Stift, in die Gruppe passen würde. Solche Bedenken kennt Wolfgang Dieckmann nicht. Er sucht die Öffentlichkeit. „Ich will auf die Gefahr aufmerksam machen!“

Zwei gescheiterte Ehen

Es ist das einzige Mal, dass Wolfgang Dieckmann die Stimme hebt, wenn er über Alkohol und Jugendliche spricht. „Die wissen einfach nicht, dass sie beim Komasaufen kurz vorm Tod sind!“ Näher als Dieckmann es trotz seines für Normaltrinker nicht zu fassenden Alkoholmissbrauchs je war.

Man merkt dem heute 59-jährigen nicht an, dass er früher viel – zu viel – getrunken hat. Nichts deutet mehr auf den Kampf des gebürtigen Hannoveraners mit dem Alkohol hin. Überhaupt redet er mit großer Offenheit über seine Abhängigkeit. Über seine Familie, seine beiden gescheiterten Ehen und Kinder, über Co-Abhängigkeiten und die Probleme, die seine Kinder nun haben, weil er, und das ist ihm wichtig, eine Krankheit hatte. „Denn Alkoholismus ist eine Krankheit“, betont Dieckmann. Das ist ihm so wichtig, wie das Engagement für Alkoholkranke. Seit 30 Jahren, denn so lange ist die alkoholgetränkte Zeit in seinem Leben mittlerweile vorbei, arbeitet er mit anderen gegen die Krankheit.

Wolfgang Dieckmann - Selbst in Klinik eingewiesen 

Als er sich schließlich selbst in die Klinik einweisen ließ, waren seine Leberwerte um das 40fache erhöht. „Nicht viel länger und ich wäre tot gewesen“, erzählt Wolfgang Dieckmann mit so viel Ruhe als ginge es nicht um tödlichen Suff, sondern um eine Reizung des Blinddarms. Die Entgiftung folgte, sieben Wochen stationärer Aufenthalt, eine ambulante Gesprächstherapie und der Anschluss an den Kreuzbund, einer Selbsthilfegruppe mit Anbindung an die Katholische Kirche. 26.000 Menschen, die suchtkrank oder Angehörige Suchtkranker sind, treffen sich regelmäßig in den 1470 Gruppen des Kreuzbundes bundesweit.

Bier und Schnaps waren nicht immer kritisch für Wolfgang Dieckmann. Bier und Bundeswehr gehörten zusammen, auch im Handballverein floß nach den Spielen der Gerstensaft. Wann Alkohol zum Problem wurde, kann er nicht mehr sagen. Es gibt auch keine Auslöser, die er benennen könnte. Vermuten vielleicht, aber ob die strenge katholische Erziehung im Elternhaus wirklich ein Auslöser war, Grenzen zu überschreiten? Wolfgang Dieckmann weiß es nicht, es ist aber auch nicht mehr wichtig für ihn.

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Kompromisslose Offenheit

Menschen wie ihn, die heute offen und scheinbar tabulos über den Alkohol in ihrem Leben sprechen, brauchen Selbsthilfegruppen und Suchtberatungszentren. Rita Köster kennt Dieckmann und seine Geschichte seit Jahren. Nicht ungewöhnlich sei es, meint die Leiterin des Caritas Suchtberatungszentrums für Breckerfeld, Ennepetal und Schwelm, dass Menschen, die den Alkoholismus als Teil ihres Lebens begriffen haben, so offen darüber sprechen können wie der Vorsitzende des Kreuzbundes. Daraus generell abzuleiten, dass Offenheit der beste Weg ist, sagt Köster nicht. Im Gegenteil, jeder müsse für sich genau abwägen, wie sinnvoll es ist, nicht nur Freunde und Familie zu informieren, sondern auch gleich den Arbeitgeber und das gesellschaftliche Umfeld.

Für Wolfgang Dieckmann war diese Entscheidung in der ersten Nacht des Entzugs klar. Er werde alle darüber informieren. Seine Freunde, seine Kollegen und jeden, der es wissen wollte und sollte. Kompromisslos wirkt Dieckmann auch heute noch, wenn er über seine Krankheit spricht. Über die erste Nacht in der Klinik als er, der erfolgreich im Beruf war, der eine Frau und Familie hatte, Freunde und eine Kirchengemeinde, in der er sich wohlfühlte, am Boden war und dachte: „Ich stehe vor dem Nichts.“

Zu wenige Selbsthilfegruppen

„Ich war mit zwei netten alten Herren auf einem Zimmer, denen nicht verborgen blieb, wie es mir ging. Es war gut, ihnen sagen zu können, dass ich Alkoholiker bin“, erinnert sich Wolfgang Dieckmann. Diesen Moment nennt er seinen Befreiungsschlag im Dreibettzimmer der Medizinischen Hochschule in Hannover.

Die brutale Offenheit mit der Dieckmann spricht, nutzt auch den Selbsthilfegruppen im südlichen Kreisgebiet. Fünf von ihnen gibt es derzeit. „Zu wenig“ findet Dieckmann, der aus seiner Zeit in Niedersachsen noch die Zusammenarbeit von mehr als 30 Gruppen kennt. Susanne Auferkorte organisiert und koordiniert die Arbeit aller Selbsthilfegruppen der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Gevelsberger Gesundheitshaus. Die Begegnung auf Augenhöhe, das betont Auferkorte, macht die Kompetenz von Selbsthilfegruppen aus. Die Diplom-Sozialarbeiterin sagt schlicht. „Reden hilft“. Die Sprachlosigkeit der Betroffenen kann lähmender sein als die Erkrankung. Auferkorte unterscheidet zwischen dem, was die Selbsthilfe leistet und dem, was Aufgabe von Ärzten ist. „Die Behandlung und Beratung übernehmen andere. In der Selbsthilfe geht es um Entlastung und das Treffen mit Betroffenen.“

Wachsende Isolation der Menschen 

Rita Köster, Leiterin des Caritas Beratungszentrums, hat in den vergangenen Jahren eine weitere Entwicklung beobachtet. Ihr Zentrum übernimmt immer mehr die Funktion von Familie, Freunden und Vereinen, dem sozialen Netzwerk, dass das Leben strukturiert und vor Einsamkeit schützt. Das gemeinsame Frühstück, der gemeinsame Ausflug – organisiert von der Caritas oder einem anderen Träger. „All’ das haben wir früher so nicht gebraucht“, stellt Köster mit Blick auf die wachsende Isolation der Menschen fest.

Der Austausch mit anderen, kann Leben retten. Das weiß Dieckmann, auch wenn er, so sagt er, nie wieder nach dieser ersten niederschmetternden Nacht in Versuchung gekommen ist, zur Flasche zu greifen. Falls aber doch ein Mitglied der Gruppe in Versuchung kommen sollte, gibt es ein Telefonliste. „Wir sagen jedem: ,Bevor du zur Bude rennst, kommst du am Telefon vorbei, ruf’ an!“

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Egoismus ist Selbstschutz

Er selbst, sagt Dieckmann, hat nichts gegen Alkohol. „Ich lebe seit vielen Jahren zufrieden abstinent und verschwende daher keinen Gedanken mehr an Alkohol.“

An seinen Salat kommt nicht der Rotweinessig, den die anderen Mitglieder seiner angenommenen italienischen Großfamilie aufträufeln, sondern Öl und Zitrone. Pralinen mit Alkohol isst er nicht, seine Lebensgefährtin lässt er nach einer Feier schon mal alleine schlafen, wenn ihn der Atem stört. Egoismus habe er gelernt, sagt er, denn Egoismus sei auch Selbstschutz.

Alkoholikerzahlen bleiben konstant

Wann aber beginnt Alkoholismus? „Wenn man Alkohol für oder gegen etwas einsetzt“, sagt Diekmann. Rita Köster unterscheidet noch zwischen der psychischen und der körperlichen Abhängigkeit und erzählt von der Frau, der mitten in der Scheidungsphase bewusst wurde, dass jeden Abend eine Flasche Wein nicht die Lösung sein kann. „Körperlich abhängig sind solche Menschen nicht, vielleicht aber schon psychisch.“

Die Zahl der alkoholkranken Menschen, die Hilfe bei der Caritas suchen, bleibt seit Jahren konstant. Trotzdem wünscht sich Rita Köster einen rigideren gesetzlichen Umgang mit der Droge Alkohol. „Letztendlich sind wir ein Land der Säufer“, resümiert sie ihre Erfahrung.

Kaffee zum Frühstück

Die eine Geschichte des Alkoholikers gibt es nicht. Auch nicht die eine Geschichte des Entzugs, aber Wolfgang Dieckmann freut sich über jeden, den er mit seiner Geschichte zum Nachdenken bringt und über jeden, der von seiner Erfahrung profitieren kann.

Heute klingelt Dieckmanns Wecker erst um sieben Uhr. Es gibt Kaffee am Frühstückstisch und eine Zeitung.