Gevelsberg. FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann reist mit immensen Sicherheitsvorkehrungen. Auch der Ton im Straßenwahlkampf wird rauer.
Die drei Männer sagen kaum ein Wort, halten sich im Hintergrund. Auch wenn sie Sakkos tragen, ist deutlich zu sehen, dass sie regelmäßig Gewichte stemmen. Ihre Gesichter verraten keine Emotionen, während sie permanent die etwa 130 Gäste im Haus Ennepetal im Blick haben und die Frau, die sie beschützen müssen: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, 66 Jahre alt, Spitzenkandidatin der FDP im Europawahlkampf. Die drei Männer im Wandschrankformat sind vom Bundeskriminal-Amt und vor der Tür stehen zwei weitere Streifenwagen der Polizei des Ennepe-Ruhr-Kreises, um die Sicherheit der Politikerin zu gewährleisten, die sich massiven Anfeindungen ausgesetzt sieht. Eine Verrohung gegenüber denjenigen, die sich in demokratischen Parteien engagieren, die im Ennepe-Ruhr-Kreis auch diejenigen zu spüren bekommen, die gar nicht wirklich in der Öffentlichkeit stehen.
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„Es ist eigentlich unvorstellbar, dass ich seit ein paar Monaten das BKA dabei habe. Aber es ging einfach nicht mehr anders“, sagt die Düsseldorferin, die als einfache Bundestagsabgeordnete mit einem Sicherheitskonzept unterwegs ist, wie es vor einigen Jahren nur für den Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin notwendig war. Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat an diesem Freitag eine beeindruckende Rede auf Einladung des FDP-Kreisverbands gehalten, in der sie immer wieder darauf abgezielt hat, wie wichtig eine starke EU für den Frieden in Europa ist. Sie selbst hat mit ihrem wachsenden Bekanntheitsgrad durch ihre hohe Talkshow-Präsenz ein großes Stück ihres privaten Friedens aufgegeben.
Knapp 130 Tage ist sie bereits unterwegs, als sie in Ennepetal auftritt. Sie versprüht Enthusiasmus, Leidenschaft, findet deutliche Worte, ohne mit dem Finger auf andere Parteien zu zeigen. Kein Satz beginnt mit „Wir als FDP...“. Lebensnah und klar arbeitet sie ihre Themen ab. Ein authentisches Auftreten, das ihr seit Langem steigende Popularität einbringt, das die Frau, die erst seit 2017 überhaupt im Bundestag sitzt, auf die Spitzenposition der Liberalen für Europa gebracht hat. Doch als Politikerin in der Öffentlichkeit zu stehen, hat seinen Preis. „S-Bahn und Regionalbahnen fahre ich schon lange nicht mehr. Alle Fotos meiner Familie habe ich aus dem Internet entfernt“, sagt sie nach einem langen Abend im Haus Ennepetal, der mit Selfies und Gesprächen endet.
Bereits bevor sie ihren Auftritt hatte, checkten BKA-Leute den Veranstaltungsort, die Beamten gestalten ihren Tagesplan maßgeblich mit. „Beim Plakatieren beleidigt zu werden, das gab es schon vor 20 Jahren“, erinnert sie sich im Gespräch mit der Redaktion. „Aber die Radikalisierung im Netz schwappt immer mehr in die Realität“, fährt sie fort. Dennoch - und daran lässt Marie-Agnes Strack-Zimmermann keinen Zweifel - gibt es für sei keine Alternative dazu, sich dieser Entwicklung entschlossen entgegenzustellen. „Wenn wir dem Mob die Straße überlassen, dann ist das ein Problem. Das gab es schon einmal, und wir dürfen die Menschen nicht verlieren“, sagt sie und macht deutlich, für wie wichtig sie es hält, dass sich junge Menschen auch weiterhin in demokratischen Parteien engagieren.
Aus Angst nicht mehr allein zum Plakate-Kleben
Diesbezüglich ist die FDP im Ennepe-Ruhr-Kreis aktuell gut aufgestellt, so ist der heimische Europa-Kandidat Niclas Bauermeister aus Gevelsberg gerade einmal 24 Jahre alt und geht durchaus noch als politischer Nachwuchs durch. Doch die Verrohung spüren auch die Politikerinnen und Politiker aller demokratischen Parteien vor Ort im Ennepe-Ruhr-Kreis. „Die Sachbeschädigungen nehmen massiv zu. Jeden Abend reparieren wir Plakate. So oft und heftig wie bei diesem Wahlkampf sind wir noch nie beschimpft worden“, sagt André Menninger, stellvertretender FDP-Kreisvorsitzender an diesem Abend.
Gewalttätige Übergriffe auf Kommunalpolitiker, wie zuletzt auf zwei Grüne in Essen, von denen einer verletzt wurde, hat es im Ennepe-Ruhr-Kreis zwar noch nicht gegeben, aber solche Nachrichten versetzten die Ehrenamtler parteiübergreifend ein Stück weit in Angst. Denn ein wenig schwingt bei ihnen die Frage mit, ob auch sie auf Mitbürger treffen, die sie beim Plakate-Aufstellen oder am Wahlkampfstand verprügeln. „Wir gehen teilweise im Ennepe-Ruhr-Kreis gemeinsam mit Mitgliedern anderer Parteien auf die Straße, damit wir eben nicht allein unterwegs sind“, sagt André Menninger.
Ina Blumenthal, SPD-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Ennepe-Ruhr macht deutlich, dass es auch für sie keine Alternative zu den demokratischen Kräften im Land gibt.: „Der aktuelle Europawahlkampf ist eine Richtungsentscheidung - für die EU, für Deutschland und unseren Ennepe-Ruhr-Kreis. Das Klima in unserer Gesellschaft ist angespannt. Die täglichen Berichte über Kriege, Krisen und Korruption bedeutet für uns alle Dauerstress. Das merken wir in den Gesprächen mit den Menschen. Besonnenheit ist wichtig. Wir stellen mehr Vandalismus bei Plakaten fest. Körperliche Gewalt haben wir zum Glück nicht erfahren. Wir passen jedoch mehr auf und stehen im wahrsten Sinne zusammen. Das schafft Sicherheit. Wir machen weiter - für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Gerade zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes lassen wir uns nicht aus der Bahn bringen. Politik ist anstrengend, aber es lohnt sich, für die Menschen und für unsere Demokratie in unserem Ennepe-Ruhr-Kreis.“
„Die demokratischen Parteien rücken im Ennepe-Ruhr-Kreis enger zusammen“, verdeutlicht Kirsten Deggim, Sprecherin der Grünen im Ennepe-Ruhr-Kreis. „Vor allem von AfD-Leuten und AfD-nahen Menschen werden wir angegangen. Die Verrohung spüren wir deutlich“, sagt die Herdeckerin. Allein sei so gut wie niemand im Wahlkampf unterwegs - und das bei einer Europawahl, die den Menschen in der Vergangenheit überwiegend egal war. „Ich bin gespannt, wie sich das noch entwickelt“, sagt die Grünen-Chefin im EN-Kreis - mit Sicherheit auch mit dem Blick auf die Bundestagswahl und die Kommunalwahl, die beide im kommenden Jahr stattfinden und die Menschen bislang deutlich mehr elektrisiert haben, als es eine Europawahl tat.
Wahlen, die sicherlich auch Ulrich Oberste-Padtberg noch mehr fordern als der aktuelle Europa-Wahlkampf. Dem CDU-Kreisvorsitzenden war es aus terminlichen Gründen leider nicht möglich, ausführlich zu den Konfrontationen mit aggressiven Menschen im aktuellen Wahlkampf zusprechen. Doch im Großen und Ganzen decken sich die Erfahrungen der CDU-Mitglieder mit denen von SPD, Grünen und der FDP.
Derweil sind die drei BKA-Beamten mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann wieder abgereist. Für diesen Tag machten alle Feierabend, aber bis zur Wahl werden sie noch viele deutsche Städte besuchen und hoffen darauf, dass alles so friedlich und unspektakulär verläuft, wie in Ennepetal.
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