Schwelm. Sie wurden vertrieben, ins Konzentrationslager verschleppt und sterben gelassen: Was die Mitglieder der Schwelmer Familie Marcus erleiden mussten

Arthur Cohn starb 1943 in Schwelm, weil man ihn sterben lassen wollte. Er hatte Tuberkulose, eine Krankheit, die man schon damals hätte heilen können. Doch man verweigerte ihm die lebensrettende Behandlung, weil er Jude war. Seine Frau Erna pflegte ihn, wollte ihn in seinem Leid nicht alleine lassen und wurde von den Nazis ins Konzentrationslager verschleppt, weil auch sie Jüdin war. Damit Schicksale wie diese nicht in Vergessenheit geraten, wurden vor ihrem damaligen Zuhause in Schwelm jetzt Stolpersteine verlegt - um an das Unrecht zu erinnern, das der Familie in der Bahnhofstraße 37 geschah.

Richard Markus (rechts) und Daniela Markus (links) sind aus Berlin angereist, Ellen Marcus (Mitte) aus Austin in Texas.
Richard Markus (rechts) und Daniela Markus (links) sind aus Berlin angereist, Ellen Marcus (Mitte) aus Austin in Texas. © WP | Carmen Thomaschewski

Insgesamt sind es acht Pflastersteine, die nebeneinander in den Bürgersteig eingelassen wurden. In jeden Stein ist ein Name graviert, der an ein Mitglied der Familie Marcus erinnert. „Alles begann mit Meyer Marcus, er hat das Haus an der Bahnhofstraße 37 im Jahr 1875 gebaut“, erzählt Marc Albano-Müller. Seit Jahren ist er der jüdischen Geschichte in der Stadt auf der Spur, ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die Schwelmer mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Und er kennt auch die tragische Geschichte der Familie Marcus, die während des Nazi-Regimes Unfassbares erleiden musste.

In der Bahnhofsstraße 37 in Schwelm wurden acht Stolpersteine verlegt - in Gedenken an die Familie Marcus, die während des Naziregimes vertrieben wurde.
In der Bahnhofsstraße 37 in Schwelm wurden acht Stolpersteine verlegt - in Gedenken an die Familie Marcus, die während des Naziregimes vertrieben wurde. © WP | Carmen Thomaschewski

„Ich bin die letzte Überlebende dieser Familienlinie“, sagt Ellen Marcus. Es ist der 8. Mai, der Tag, der für das Ende des Krieges steht, für die Befreiung. Dass Ellen Marcus jetzt in Schwelm steht, zeigt, dass es einigen in ihrer Familie gelungen ist, zu fliehen, ihr Leben zu retten. Ellen Marcus ist in Amerika geboren, wohnt in Austin, im amerikanischen Bundesstaat Texas. Doch auch wenn sie so weit weg ist von Schwelm, das Schicksal ihrer Familie lässt sie nicht los. „Es war ihr Wunsch, dass Stolpersteine in Gedenken an ihre Familie verlegt werden“, sagt Marc Albano-Müller. Ellen Marcus zeigt auf die Porträts ihrer Vorfahren, die auf Stellwänden zu sehen sind. Sie erzählt von ihrem Ur-Großvater, der das Haus baute, von ihren Tanten und Onkeln, die alles aufgeben mussten, weil sie von Nazis verfolgt und vertrieben wurden.

Die Menschen, die in dem Haus an der Bahnhofstraße 37 lebten.
Die Menschen, die in dem Haus an der Bahnhofstraße 37 lebten. © WP Schwelm | Denise Ohms Funkegrafik NRW

Mehr als 50 Menschen sind zur Feierstunde gekommen, in der Bürgermeister Stephan Langhard unter anderem davon spricht, wie wichtig es ist, auch in diesen Zeiten an das riesige Unrecht zu erinnern. „Der Holocaust war ein Verbrechen von unvorstellbarem Ausmaß. Damals hat eine Gesellschaft überwiegend die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von Menschen mitgetragen, die gerade noch Nachbar, Arbeitskollegin oder Vereinsfreund gewesen waren.“ Er sagt, Ausgrenzung beginne schon im Kleinen und könne schlimme Folgen haben. „Wir müssen Grenzen aufzeigen und Nein sagen.“

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Und auch die Schülerinnen und Schüler des Arbeitskreises Stolpersteine des Märkischen Gymnasiums kommen zu Wort, zeichnen eindringlich die einzelnen Lebenswege der Familie Marcus auf, erinnern an Menschen wie Erna Marcus, die Arthur Cohn heiratete und ihn viel zu früh verlor. Die Frau, die 1943 in die KZs in Theresienstadt und Auschwitz gebracht wurde und das Martyrium überlebte. Sie begann in New York ein neues Leben, folgte den anderen Vertriebenen ihrer Familie. „Mein Vater hat viel von ihr erzählt“, sagt Ellen Marcus heute. Sie fühlt sich aber nicht nur mit Erna verbunden, sondern mit allen, die ihr altes Leben in Schwelm hinter sich lassen mussten, um ihr Leben zu retten.

Bürgermeister Stephan Langhard hielt eine Rede, Schüler des Märkischen Gymnasiums waren ebenfalls vor Ort.
Bürgermeister Stephan Langhard hielt eine Rede, Schüler des Märkischen Gymnasiums waren ebenfalls vor Ort. © WP | Carmen Thomaschewski

Während ihrer Nachforschungen hat sie aber auch Familienmitglieder gefunden, von denen sie nichts wusste - wie Richard und Daniela Markus. „Aus dem C im Nachnamen wurde in all den Jahren ein K“, sagt Richard Markus, der dankbar dafür ist, dass die Recherchen in Schwelm ihn mit Ellen Marcus zusammengebracht haben. Seiner Cousine 4. Grades. Es sei ein besonderer Moment für ihn, dabei zu sein, wenn seiner Familie in Schwelm gedacht wird.

Schüler des Gymnasiums haben die Steine vor der Bahnhofsstraße 37 in Schwelm in den Boden eingelassen.
Schüler des Gymnasiums haben die Steine vor der Bahnhofsstraße 37 in Schwelm in den Boden eingelassen. © WP | Carmen Thomaschewski

Finanziert wird die Aktion zur einen Hälfte vom Verein für Heimatkunde und zur anderen Hälfte von der Wilhelm-Erfurt-Stiftung. Um alles andere kümmerte sich Marc Albano-Müller. Er erklärt, dass nicht nur an die Familie Marcus erinnert wird, an die beiden Brüder, die mit ihren Familien im Haus in Schwelm wohnten, und an deren Kinder, sondern auch an Immanuel Ehrlich. Auch er lebte in dem Haus an der Bahnhofsstraße. Während es die meisten in dem Haus schafften, dem Naziregime zu entkommen, wurde der jüdische Religionslehrer 1942 im KZ ermordet. In Gedenken an ihn wurde vor einigen Jahren bereits der Immanuel-Ehrlich-Platz in der Kirchstraße in Schwelm eingeweiht.

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Die Stolpersteine wurden vom Künstler Gunter Demnig gestaltet und sind nicht die ersten in Schwelm. Vier Pflastersteine mit Gedenktafeln sind der Familie Herz in der Kölner Straße 3 gewidmet. Zwei weitere Steine, die an das Schicksal der Juden in Schwelm erinnern, sind in der Wilhelmstraße 25 zu finden, dort, wo Familie Wassertrüdinger lebte. Jetzt gibt es acht weitere Stolpersteine, gegen das Vergessen. In der Hoffnung, dass das, was Arthur und Erna, und die anderen Familienmitglieder ertragen mussten, nie wieder passiert.