Gevelsberg/Breckerfeld. Wenn Sozialhilfe sich verzögert, besteht für Senioren in Altenheimen Kündigungsgefahr. Diese Erfahrung hat auch ein Gevelsberger gemacht.
- Immer mehr ältere Menschen können sich das Altenheim nicht leisten
- Anträge auf Sozialhilfe haben je nach Fall aber eine lange Bearbeitungszeit
- Werden sie nicht rechtzeitig beschieden, können die Altenheime die Pflegeplätze kündigen
Die Kosten für Pflegeplätze steigen und wachsen immer mehr Menschen über den Kopf. Infolgedessen sind sie zunehmend auf Sozialhilfe angewiesen. Für die Bearbeitung der entsprechenden Anträge braucht das zuständige Amt je nach Fall und eigener Personalsituation aber mehrere Monate. Die Gefahr: Bis der Sozialhilfeantrag beschieden ist, können Betroffene die Rechnungen für die Pflege nicht zahlen. Wird das Schuldenloch zu groß, sehen sich Träger von Einrichtungen unter Umständen gezwungen, Pflegeplätze zu kündigen.
Eine ganz ähnliche Situation erlebt derzeit ein Mann aus Gevelsberg, dessen Eltern in einer Einrichtung der Diakonie Mark-Ruhr in Breckerfeld untergebracht sind. Wilfried Michalczik hat im Juli 2023 beim Ennepe-Ruhr-Kreis Sozialhilfe für seine Eltern beantragt. Bis einschließlich vergangenen Montag lag ihm kein positiver Bescheid des Sozialamts vor.
Zwischenzeitlich sei ihm mitgeteilt worden – so die Darstellung Michalcziks – dass die Diakonie erwäge, seinen Eltern die Pflegeplätze zu kündigen, sollten die Kosten weiterhin nicht ausreichend gedeckt sein. Auf Nachfrage der Redaktion äußern sich sowohl der Ennepe-Ruhr-Kreis als auch die Diakonie zur Thematik.
Rente und Pflegegrad reichen nicht
Zur Erklärung: Michalcziks Vater ist 96, seine Mutter 99 Jahre alt. Im vergangenen Jahr war der Punkt erreicht, an dem der Gevelsberger selbst keine ausreichende Pflege seiner Eltern mehr gewährleisten konnte. Seitdem haben die beiden Senioren Pflegegrad 4, bekommen also monatlich Geld aus der Pflegekasse für vollstationäre Leistungen in der Alteneinrichtung.
Alles, was über diesen Betrag hinausgeht, zahlen sie aus eigener Tasche. Die Rente seiner Eltern ist laut Wilfried Michalczik aber zu klein, um die übrigen Kosten ganz zu decken. Zeitnah zur neuen Pflegestufe stellt Michalczik also einen Antrag auf Sozialhilfe beim Kreissozialamt. Den entsprechenden Schriftverkehr konnte die Redaktion einsehen.
Lesen Sie auch:
Gevelsberg: Attacke auf Behindertenwohnheim der AWo
Straßenausbaubeiträge abgeschafft: Wer trotzdem zahlen muss
Ennepetal: 63 Wohnungen auf ehemaligem Fabrikgelände geplant
Der Ennepe-Ruhr-Kreis teilt ihm mit, dass die eingereichten Unterlagen nicht vollständig seien und dass er diese bis zum 22. November 2023 nachreichen möge, was er laut eigener Aussage getan habe. Zuletzt habe das Amt ihm Anfang Februar 2024 mitgeteilt, dass er weitere Nachweise erbringen müsse.
Mehrmonatige Bearbeitungszeit
Der Ennepe-Ruhr-Kreis kann sich aus Datenschutzgründen nicht explizit zum genannten Fall äußern, gibt auf Nachfrage der Redaktion aber Einblicke in die allgemeine Situation. Demnach hat die Behörde Stand Februar 2024 nach eigenen Angaben 830 Anträge auf Sozialhilfe zu bescheiden. „Diese Zahl beinhaltet stationäre und ambulante Pflege sowie Bestattungskosten“, erklärt Ingo Niemann, Sprecher des Ennepe-Ruhr-Kreises. Aktuell seien 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Anträge zuständig - elf für die stationäre Pflege, zwei für die ambulante Pflege und zwei für Bestattungskosten.
„Die Bearbeitungszeit hängt von der Komplexität des Einzelfalls ab“, so der Sprecher weiter. „Es sind beispielsweise Fragen im Zusammenhang mit Vermögen und Wohnungseigentum zu klären.“ Aktuell liege die Bearbeitungszeit bei sechs bis neun Monaten. Eine konkrete Frist, einen Antrag zu bescheiden, sei gesetzlich nicht vorgegeben. Die Verfahrensdauer hänge auch von der Mitwirkung des Antragstellers ab.
+++ Nichts mehr verpassen: Bestellen Sie hier unseren Newsletter aus Ennepetal, Gevelsberg und Schwelm +++
„Die Kreisverwaltung hat – wie andere Städte und Kreise auch – seit Jahren mit einer hohen Personalfluktuation in diesem Bereich zu kämpfen“, macht Ingo Niemann deutlich. „Durch hohe Ausbildungszahlen und verstärkte Akquise versucht die Kreisverwaltung, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.“ Allerdings müssten neue Mitarbeiter in das komplexe Thema auch eingearbeitet werden. Durch einen optimierten Informationsfluss zwischen den Pflegeeinrichtungen und der Kreisverwaltung und ständige Optimierung der Arbeitsprozesse werde eine Bearbeitung derzeit beschleunigt.
Träger bleibt auf Kosten sitzen
Wilfried Michalczik unterstellt der Behörde ausdrücklich keine böse Absicht und betont, dass Gespräche mit der Sachbearbeitung immer freundlich verliefen. Auch hat der Gevelsberger Verständnis dafür, dass Träger von Alteneinrichtungen auf ihre Wirtschaftlichkeit achten müssen.
Die in diesem Fall angesprochene Diakonie Mark-Ruhr bestätigt auf Nachfrage der Redaktion, dass es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt und möchte sich daher öffentlich dazu äußern. „Die Kosten für einen Pflegeplatz werden mit den Kostenträgern (Pflegekassen/Sozialamt) jährlich verhandelt und steigen stetig“, heißt es in einer entsprechenden Stellungnahme. „Eine steigende Anzahl an Menschen kann diese Kosten nicht mehr aus ihren Einkommen (Rente/Vermögen) bezahlen und ist auf Unterstützung durch das Sozialamt (Pflegewohngeld/ergänzende Hilfen) angewiesen.“
Auch die Diakonie bestätigt: Das Verfahren zur Ermittlung der Kostenübernahme durch den Sozialhilfeträger habe mittlerweile eine mehrmonatige Bearbeitungszeit. Die Rechnungen der Bewohnerinnen und Bewohner würden in dieser Zeit gar nicht oder nicht vollständig gezahlt.
Suche nach Lösungen
„Auf der anderen Seite stehen unsere monatlichen finanziellen Verpflichtungen als Träger der Einrichtungen“, heißt es weiter in der Stellungnahme. Das seien zum Beispiel Gehälter für Mitarbeitende oder Rechnungen von Lieferanten. „Der monatelange Ausfall der Einnahmen ist für uns wirtschaftlich nicht tragbar, zumal der Einnahmeverlust nicht kalkulierbar ist“, macht die Diakonie deutlich. „Somit sind wir zum Teil gezwungen, Pflegeplätze zu kündigen.“
Aus ihrer Sicht berührten diese Fälle zentrale Fragen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität und brächten Fragestellungen der Finanzierbarkeit des gesamten Versorgungssystems in die aktuelle Diskussion, die die Diakonie als Trägerin alleine nicht lösen könne.
„Wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass alle offenen finanziellen Angelegenheiten geklärt werden und unsere Einrichtungen die notwendigen Ressourcen erhalten, um ihre wichtige Arbeit fortzusetzen und die Versorgung unserer Bewohner:innen sicherzustellen“, heißt es. „Dazu stehen wir im engen Austausch mit den entsprechenden Akteuren wie dem Ennepe-Ruhr-Kreis und versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden.“