Ennepetal/Gevelsberg/Schwelm. Endstation Psychiatrie: Was sich am Umgang mit schwer psychisch erkrankten Menschen geändert hat und wie ihnen im EN-Kreis geholfen wird.

1984, als der Verein Kontakt- und Krisenhilfe (KuK) im Ennepe-Ruhr-Kreis gegründet wurde, war es noch üblich, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen möglichst vom alltäglichen Leben fernzuhalten. „Schwer psychisch erkrankte Menschen, die auffällig wurden, wurden in Kliniken untergebracht. Die Kliniken lagen meist weit weg vom Schuss und die Aufenthaltsdauer der Patienten war lang. Viele haben den Rest ihres Lebens dort verbracht“, sagt Jürgen Wanitzke, Geschäftsführer der KuK.

Sein Verein, von engagierten Bürgerinnen und Bürgern gegründet, schrieb es sich vor 40 Jahren auf die Fahnen, das zu ändern. Immer mit dem Ziel, die Erkrankten aus den Kliniken herauszuholen und ihnen zu ermöglichen, ihr Leben in eigenen Wohnräumen selbstständig zu führen.

Jürgen Wanitzke, Geschäftsführer des Vereins Kontakt- und Krisenhilfe Ennepe-Ruhr-Kreis: „Wir bieten die klassische Hilfe zur Selbsthilfe.“
Jürgen Wanitzke, Geschäftsführer des Vereins Kontakt- und Krisenhilfe Ennepe-Ruhr-Kreis: „Wir bieten die klassische Hilfe zur Selbsthilfe.“ © WP | Alisa Schumann

Denn das fällt den Klienten der KuK meistens sehr schwer, wie Jürgen Wanitzke erklärt: „Unser Angebot Ambulant Betreutes Wohnen richtet sich an chronisch psychisch erkrankte Menschen, in der Regel Erwachsene, die in der eigenen Wohnung leben. Meistens allein. Wir bieten die klassische Hilfe zur Selbsthilfe.“

Die Klienten können ihren Alltag nicht ohne Unterstützung bewältigen. Die KuK stellt ihnen eine feste Bezugsperson zur Seite, die sie ein bis zwei Mal in der Woche bei Behörden- oder Arztgängen begleitet, ihnen bei Anträgen hilft oder sich mit ihnen bei einem Kaffee über Probleme austauscht.

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Wanitzke berichtet von einem Klienten, ein Psychotiker, der immer wieder bei der KuK anrufe und frage, ob er seine Wäsche richtig sortiert oder die richtigen Lebensmittel eingekauft habe. „Manchen fällt es aufgrund ihrer Erkrankung schwer, Entscheidungen zu treffen. Das ist für die Patienten eine ziemlich quälende Sache. Sie müssen sich immer rückversichern. Wir möchten die Menschen dabei unterstützen, mehr Autonomie zu gewinnen, mehr Lebensqualität“, sagt Wanitzke. Er schränkt aber ein: „Wir wollen ihnen nichts abnehmen. Wir räumen nicht die Wohnung auf oder putzen. Wir leiten die Klienten an, das selbst zu schaffen.“

Das falle vielen nicht leicht. Jürgen Wanitzke nennt ein weiteres Beispiel: Eine Frau wird mit Ende 30 depressiv. „Erst kommt es schleichend, dann kann sie ihrer Arbeit nicht mehr richtig nachgehen. Sie geht zum Hausarzt, kommt in den Krankengeld-Bezug“, beschreibt Wanitzke. Irgendwann erhält die Frau Arbeitslosengeld, kommt zwischenzeitlich immer wieder in eine Klinik, landet schließlich im Bürgergeldbezug. „Die Spirale bewegt sich immer weiter nach unten.“

Feiern zum 40-jährigen Bestehen

Der Verein Kontakt- und Krisenhilfe, der Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband ist, finanziert seine Arbeit durch öffentliche Mittel, Mitgliedsbeiträge und Spenden. „Der Verein ist dankbar für jede Spende. Möglichkeiten dazu sind auf unserer Homepage zu finden. Es können Spendenquittungen ausgestellt werden“, sagt Wanitzke.

Zum 40-jährigen Bestehen der KuK lädt der Verein am 5. und 6. September zu zwei Veranstaltungen ein. Jürgen Wanitzke: „Die Erste richtet sich hauptsächlich an unsere Betroffenen. Zur Zweiten laden wir langjährige Weggefährten, Kollegen und die Politik und Verwaltung ein. Wir sind noch in den Vorbereitungen.“

Die KuK sucht zudem Mitarbeiter für das Ambulant Betreute Wohnen. Weitere Informationen gibt es unter www.kontakt-und-krisenhilfe.de

Bei Depressionen hätten viele Erkrankte nicht mehr die Kraft, ihre Post aufzumachen. Sie bekommen Probleme mit dem Amt, weil sie dort nicht vorstellig werden. „Die Mietzahlungen laufen nicht mehr richtig. Es kumuliert alles. Irgendwann wird die Frau wieder in eine Klinik eingewiesen, und dort bringt der Sozialdienst die Kontakt- und Krisenhilfe ins Spiel“, sagt Wanitzke.

Manche Patienten sind bereits als Jugendliche erkrankt, andere werden durch ihre Diagnose mitten aus dem Berufsleben gerissen. Die Mitarbeiter der KuK erführen viele Lebensgeschichten mit teils erschütternden Erlebnissen. „Aber es entstehen auch langjährige Vertrauensbeziehungen. Die Kunst besteht darin, unseren Klienten viel Empathie entgegenzubringen, aber trotzdem eine professionelle Distanz zu wahren.“

Patientinnen und Patienten sind meist sehr einsam

Die Klienten von KuK seien häufig sehr einsame Menschen, die das Bedürfnis haben, Freundschaften zu schließen. „Mit den KuK-Mitarbeitenden geht das natürlich nicht“, macht Wanitzke deutlich. „Man muss klar kommunizieren, wo die Grenze ist.“ Stattdessen überlege sein Team, wie es den Klienten dabei helfen kann, Kontakte zu knüpfen.

„Da eignet sich unsere Kontakt- und Beratungsstelle, die wir als niederschwelliges Angebot in Schwelm, Gevelsberg und Ennepetal anbieten“, sagt Wanitzke. Dort können Menschen ohne Anmeldung vorbeikommen. „Es wird zusammen gekocht, Spiele gespielt oder Kaffee getrunken. Es werden auch Ausflüge geplant. Es gibt keine bürokratischen Hürden, dadurch kommen viele regelmäßig.“

Aus den Gesprächen mit den Besuchern werde zum Teil auch deutlich, bei wem sich der Hilfebedarf als so groß herausstellt, dass sie für das Ambulant Betreute Wohnen infrage kommen. Darüber hinaus unterhält die KuK Tagesstätten in Schwelm und Hattingen. Dort wird 35 chronisch psychisch Erkrankten ein tagesstrukturierendes Programm mit zum Beispiel Gartenarbeit, Ergotherapie oder Kochgruppe geboten.

Mitwirkung der Anfang-20-Jährigen meist gering

Laut Jürgen Wanitzke hat sich die Qualität der psychischen Erkrankungen im Lauf der vergangenen Jahre geändert. „Vor 30 Jahren waren sehr viele unserer Klienten Psychotiker. Das hat sich verändert und die Krankheitsbilder sind inzwischen sehr ausdifferenziert.“ Dazu gehören affektive Störungen wie Depressionen oder manisch-depressive Erkrankungen sowie bipolare Persönlichkeits- oder Borderline-Störungen. Wanitzke: „Ein relativ großer Anteil unserer Patienten sind immer noch Psychotiker.“

Lagen die Klienten früher vom Alter her in der Mitte ihres Lebens, seien heute mehr jüngere und auch mehr ältere Menschen darunter. „Bei den Anfang-20-Jährigen beobachten wir das Phänomen, dass der Hilfebedarf zwar da ist, aber die Mitwirkung ist sehr gering.“

Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ seien diese Klienten für die KuK-Mitarbeitenden schlecht zu erreichen und hätten Schwierigkeiten, ihren Beitrag zu leisten. „Wir können ja nicht zaubern. Eine gewisse Eigenmotivation muss mitgebracht werden, wenn man sich verändern will.“ Immer mehr jüngere Menschen verbrächten sehr viel Zeit vor ihren Smartphones und in sozialen Netzwerken. „Gleichzeitig haben sie weniger reale Kontakte. Man hat keinen echten Austausch mehr und kann dadurch Gestik und Mimik schlechter einschätzen.“

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Gesamtgesellschaftlich hat Wanitzke zwar den Eindruck, dass psychische Erkrankungen offener kommuniziert und auch akzeptiert werden. „Gleichzeitig steigen gesellschaftliche und berufliche Anforderungen immer weiter, und viele Dinge, die Menschen früher Sicherheit gaben, fallen sukzessive weg“, sagt Wanitzke und meint zum Beispiel dysfunktionale Familien, weiter zunehmender Individualismus sowie das Wegbrechen von Bindungen an eine Glaubens- und Wertegemeinschaft. All das kann psychische Erkrankungen fördern.

Für die kommenden Jahre wünscht sich Jürgen Wanitzke mehr Mitglieder für den KuK-Verein und eine größere Lobby für Menschen mit seelischen Schwierigkeiten: „Unsere Klienten strahlen wenig Glamour aus, sind meist unterprivilegiert und wollen nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Gleichzeitig möchten wir aber Aufmerksamkeit für unsere Arbeit und den großen Bedarf aufseiten der Patienten schaffen.“