Gevelsberg. Die Polizistinnen, die in Gevelsberg vor einer Schießerei fliehen, müssen sich einem Disziplinarverfahren stellen und können ihren Job verlieren.

Drei Monate intensiver Prüfung und Beratung liegen hinter Polizeichef und Landrat Olaf Schade, bis er nun entschieden hat: Er nimmt das ausgesetzte Disziplinarverfahren gegen Nadine A. und Patricia B. wieder auf. Die beiden Polizistinnen hatten am 6. Mai 2020 in Gevelsberg gesehen, wie der mit Kokain vollgepumpte Vitalij K. das Feuer auf zwei Kollegen eröffnete und einen von ihnen niederschoss. Doch anstatt den Kollegen zu helfen und K. an seiner Flucht zu hindern, verließen sie panikartig selbst den Tatort. Mit diesem Verfahren schreibt der Ennepe-Ruhr-Kreis unabhängig von seinem Ausgang nicht weniger als ein bedeutendes Stück deutsche Polizeigeschichte.

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Bald drei Jahre sind seit dieser verhängnisvollen Nacht auf der Mühlenstraße in Gevelsberg am 6. Mai 2020 ins Land gezogen, in der die heute 33-jährige A. und ihre 38-jährige Kollegin B. gemeinsam in einem Mercedes Vito auf Streife in der Nachtschicht unterwegs sind. Sie passieren die Verkehrskontrolle, die zwei ihrer Kollegen bei Vitalij K. durchführen. Ein Kollege macht ein Anhaltezeichen, das die Frauen als Gruß werten. Im Rückspiegel sieht A. jedoch nur wenige Meter hinter dem Kontrollpunkt, dass K. etwas nach einem der Kollegen wirft. Sie halten an, steigen aus, plötzlich fallen Schüsse. K. hat einen Kollegen getroffen – zum Glück nur in die schusssichere Weste, dennoch geht er zu Boden. Die beiden Polizeibeamten schießen zurück. A. und B. ergreifen hingegen die Flucht. Sie laufen etwa 50 Meter vom Geschehen weg, halten eine Altenpflegerin in ihrem Dienstwagen an, zwingen die junge Frau dazu, sie eineinhalb Kilometer vom Tatort weg zu fahren.

Erfolgreiche Berufung

Erst der Kollege auf der Kreisleitstelle schafft es, dass die beiden erfahrenen Polizistinnen zum Tatort zurückkehren, wo sie einen angeschossenen Polizeibeamten und einen Kollegen, der erst seit einem halben Jahr aus seiner Ausbildung war, zurückgelassen hatten. Ebenso stand nach ihrer Flucht ihr wahrscheinlich unverschlossener Streifenwagen mit Funkgeräten und geladenen Maschinenpistolen wenige Meter neben der Schießerei, von deren Ausgang sie keine Ahnung haben konnten. Nachdem Vitalij K. verurteilt wurde, erhob die Staatsanwaltschaft auch Anklage gegen die beiden Frauen. Gegen das Jahr Freiheitsstrafe, das das Schwelmer Amtsgericht gegen sie verhängte, legten sie erfolgreich Berufung ein. Das Landgericht Hagen reduzierte die Strafe auf vier Monate auf Bewährung wegen gemeinschaftlicher versuchter schwerer Körperverletzung durch Unterlassen im Amt.

Nachdem sie zum Tatort zurückgekehrt waren, wurden Patricia B. (links) und Nadine A. (rechts) noch in einer Straßensperre eingesetzt.
Nachdem sie zum Tatort zurückgekehrt waren, wurden Patricia B. (links) und Nadine A. (rechts) noch in einer Straßensperre eingesetzt. © Alex Talash

Damit ist die Sache für das Duo allerdings noch nicht beendet, denn dieses Urteil rief gezwungenermaßen die Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr wieder auf den Plan. Wären sie zu mindestens einem Jahr verurteilt worden, wäre eine disziplinarrechtliche Untersuchung obsolet gewesen, weil sie ohnehin ihren Beamtenstatus und damit die Grundlage für ihren Polizei-Job verloren hätten. Nun dürften sie in der Theorie vom strafrechtlichen Aspekt her problemlos wieder gemäß ihres Dienstgrades eingesetzt werden. Aber: Weil sich Olaf Schade als Leiter der Kreispolizeibehörde dazu entschlossen hat, das Disziplinarverfahren wieder aufzunehmen, droht ihnen weiterhin der Verlust ihres Jobs. Denn die Behörde prüft nun, ob und in welchem Maße sie ihre Dienstpflichten mit ihrem Handeln verletzt haben – vor allem die Kollegen im Stich zu lassen und frei zugängliche vollautomatische Waffen zurückzulassen.

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Die Kreispolizeibehörde hatte das Verfahren zunächst eröffnet, parallel dazu A. in den Innendienst versetzt. B. begab sich ohnehin bald in Elternzeit. Mit der Aufnahme des strafrechtlichen Verfahrens allerdings passierten zwei Dinge: Die beiden Polizistinnen wurden suspendiert – bei B. natürlich erst nach deren Elternzeit – und Schade setzte das Disziplinarverfahren aus, bis zum strafrechtlichen Urteil im Oktober 2022. „Wir prüfen noch“, lautetet ein Vierteljahr lang die Antwort von Polizeipressesprecherin Sonja Wever auf die beharrlichen Nachfragen der Redaktion, wie der Stand der Dinge beim Disziplinarverfahren sei. Nun die Entscheidung. Nadine A. und Patricia B. sind bereits per Post informiert worden, dass nun dienstrechtlich gegen sie ermittelt wird.

Ergebnis erst in einigen Monaten

Dafür setzt Polizei-Chef Schade in der eigenen Behörde eine Disziplinarkommission ein, die sich der Sache annimmt und am Ende dem Landrat eine Entscheidung mitteilen wird. „Das wird wohl einige Monate in Anspruch nehmen, und am Ende kann auch die Entfernung der beiden aus dem Polizeidienst stehen“, teilt Sonja Wever im Gespräch mit der Redaktion mit. Die Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr will sehr genau prüfen, ob sie hier Dienstpflichtverletzungen bei den Frauen sieht. Dabei bekommt jede ihr eigenes Verfahren, die durchaus auch unterschiedlich ausgehen könnten. Denn – das wurde bereits während der Prozesse vor Gericht deutlich – die beiden haben sich durchaus unterschiedlich verhalten. So kristallisierte sich nicht zuletzt auf den Tonmitschnitten ihres Telefonats mit dem Beamten der Kreisleitstelle heraus, dass A. sich Gedanken um den zu Boden gegangenen Kollegen machte und zum Tatort zurückdrängte, während B. diesbezüglich eher bremste.

Nadine A. (rechts) und Patricia B. (links) sind von der Berufungskammer des Hagener Landgerichts zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden.
Nadine A. (rechts) und Patricia B. (links) sind von der Berufungskammer des Hagener Landgerichts zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden. © Alex Talash

Dieses Disziplinarverfahren hat aber zusätzlich eine Bedeutungsebene, die weit über den konkreten Fall hinausgeht. Es entscheidet nämlich darüber, ob es zu den Dienstpflichten von Beamten gehört, Kollegen unter Beschuss zu helfen. Dieses Verfahren lotet aus, ob Polizistinnen und Polizisten die Pflicht haben, einen Mann, der bereits auf einen Menschen geschossen hat, mit allen Mitteln an der Flucht zu hindern oder zumindest dessen Verfolgung aufzunehmen, um die Bevölkerung vor ihm zu schützen. Die Disziplinarkommission wird sich damit beschäftigen, ob es eine Legitimation für mehrere Gesetzeshüter gibt, von einem Tatort zu flüchten, an dem ein Einzeltäter deutlich sichtbar versucht, andere Menschen zu töten. Denn: Vitalij K. ist wegen versuchten Totschlags zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Eine Strafe, die deutlich höher hätte ausfallen können, „wenn die Polizei sauber gearbeitet hätte“, wie Richterin Heike Hartmann-Garschagen deutlich machte.

Zu der unsauberen Arbeit gehörte auch, dass die Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr und das Polizeipräsidium Hagen die Flucht der beiden Polizistinnen in den Akten zur Hauptverhandlung gegen Vitalij K. gar nicht erst angeführt hatten und der Verdacht der Vertuschung mehr als einmal laut in öffentlicher Sitzung geäußert wurde. Ebenso hatte die Kreispolizeibehörde die Tat der beiden Polizistinnen dem Innenministerium nicht gemeldet, was Olaf Schade und der Polizeispitze einen deutlichen Rüffel von Innenminister Herbert Reul einbrachte. So wird auch sein Ministerium genau auf das Disziplinarverfahren und seinen Ausgang blicken.

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