Schwelm/Gevelsberg/Ennepetal. Heute vor genau 90 Jahren begann auch in unseren Städten die Nazi-Diktatur – begleitet auch von Schlägerei und Schusswechsel.

Als heute vor genau 90 Jahren, am 30. Januar 1933, der greise Reichspräsident Hindenburg in Berlin den Anführer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannte, da gab es am Abend begeisterte Fackelzüge seiner Anhänger im ganzen Deutschen Reich. Nur wenige ahnten, was für eine schreckliche Zeit auf sie zukam.

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Die Villa Spannagel an der Lindenstraße in Voerde ist ab 1937 Haus der NSDAP.
Die Villa Spannagel an der Lindenstraße in Voerde ist ab 1937 Haus der NSDAP. © Stadtarchiv/Repro: Hans-Hermann Pöpsel

Auch im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis gab es breite Zustimmung zu der von den Gegnern abfällig so genannten „Hitler-Papen-Diktatur“. Die mittags erscheinende Milspe-Voerder Zeitung (MVZ) schrieb am Tag nach Hitlers Ernennung: „Heute in aller Frühe zog ein Sprechchor durch die Straßen. Vermutlich handelte es sich um Anhänger einer Linkspartei, die Niederrufe auf die neue Regierung Hitler erklingen ließen.“

Drei Verletzte in Ennepetal

Aber auch zu Tätlichkeiten mit Pistolen kam es in Milspe. So heißt es am am 3. Februar in der MVZ: „Eine Prügelei entstand gestern mittag zwischen politischen Gegnern hinter dem Amtsgebäude, wobei ein Anhänger der NSDAP bedrängt wurde und eine Schusswaffe zog, worauf er von der herbeieilenden Polizei in Haft genommen wurde. Es sammelte sich eine große Menschenmenge an, doch konnte die Polizei im Verein mit dem alarmierten Schwelmer Überfallkommando die Ordnung aufrechterhalten.“Besonders schwere Unruhen mit drei Schwerverletzten gab es jedoch bereits am 1. Februar: Ein Demonstrationszug mit NSDAP-Anhängern sowie SA- und SS-Leuten hatte sich von Gevelsberg aus in Bewegung gesetzt und zog in Richtung Milspe. Gegen 20.40 Uhr kam er an der Ecke Kölner / Voerder Straße (Strohmeyer / Zur Post) an und wollte nach links abbiegen. Den Schluss bildete eine SA-Gruppe. „Plötzlich fielen drei Schüsse kurz hintereinander“, heißt es im Polizeibericht. „Die Menge stob auseinander. Die Polizeibeamten, und zwar nur zwei, liefen zurück und fanden ein Gewoge auf der Straße, das sie alleine nicht beherrschen konnten. Da drei Personen im gleichen Moment als Verwundete vom Publikum zu dem benachbarten Arzt Dr. Knapmann abgeschleppt wurden und die Aussagen vom Publikum, ob von den Zugteilnehmern oder vom Publikum geschossen wurde, widersprechend waren, konnten irgendwelche Ermittlungsmaßnahmen nicht getroffen werden.“ Jedenfalls wurden der Sozialdemokrat Thomas Drabent, der christliche Arbeiter Karl Grothe und der Kommunist Hermann Schott schwer verwundet.

Hier, an der Kreuzung Strohmeyer, kommt es zu der Schießerei, als der Fackelzug abbiegen will.
Hier, an der Kreuzung Strohmeyer, kommt es zu der Schießerei, als der Fackelzug abbiegen will. © Repro: Hans-Hermann Pöpsel | Stadtarchiv

Am Tag nach den Ereignissen heißt es in einem anonymen Flugblatt: „Arbeiterblut floß in Milspe! Das ist der Auftakt der Hitler-Papen-Diktatur! Die SA räumt mit der Pistole in der Hand die Straße!“Eine für den späten Nachmittag angekündigte Demonstration der KPD gegen „die braunen Mordbanden“ wurde von der Polizei jedoch verboten. Die NSDAP erklärte in einem Brief an die Milsper Zeitung unter der Überschrift „Kommunistische Mordhetze fordert 3 Opfer“ unter anderem: „Auf jeden Fall betonen wir ausdrücklich, dass die zaghafte Behandlung dieses von einem Walter Oettinghaus geführten und verführten Untermenschentums ein Ende haben muss.“

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Oettinghaus war der Leiter des Metallarbeiter-Verbandes in Gevelsberg und KPD-Reichstagsabgeordneter. Er konnte kurz nach der NS-Machtergreifung der Verhaftung durch die Flucht ins Exil nach Mexiko entgehen. Nach dem Ende des Krieges kam er schwer erkrankt zurück, Oettinghaus starb wenig später an seinem Alterswohnsitz in Altenvoerde.

Der Reichstagsabgeordnete Walter Oettinghaus konnte fliehen.
Der Reichstagsabgeordnete Walter Oettinghaus konnte fliehen. © Repro: Hans-Hermann Pöpsel

Bei der Schießerei in Milspe kam die Polizei später zu dem Ergebnis, dass da wohl ein Schuss aus dem Publikum am Straßenrand und danach vier weitere Schüsse von bewaffneten Gevelsberger SS-Mitgliedern aus dem Fackelzug heraus abgegeben worden waren.

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Am 12. März 1933 fanden im ganzen Reich Kommunalwahlen statt, wohl die letzten annähernd freien Wahlen, so auch im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis. Entgegen ihrer Erwartung erzielte die NSDAP jedoch bei weiten nicht die absolute Mehrheit in den Gemeinde- und Stadträten. So behalf man sich mit Tricks: In Gevelsberg zum Beispiel wurde noch am Tag vor der Wahl der Bürgermeister Rappold entlassen – „er darf das Rathaus nicht mehr betreten“, schrieb die Gevelsberger Zeitung. Das war eine deutliche Drohung.

SA und SS ziehen die Reichsfahne auf

Bereits wenige Tage zuvor hatten in Gevelsberg - wie in vielen anderen Städten auch – örtliche SA- und SS-Einheiten die alte schwarz-weiß-rote Reichsfahne am Rathaus aufgezogen und die Hakenkreuzfahne aus einem Fenster über dem Eingang gehisst. Das Gleiche passierte mit der Polizeistation. Schwierigkeiten gab es nur am AOK-Gebäude, denn zufällig hatte dort der Hausmeister am Tag zuvor die Fahnenstange in Reparatur gegeben. Man besorgte aber sehr schnell Ersatz, und dann „stimmte die vierhundertstimmige Menge das Horst-Wessel-Lied an“.

Die Wahlen am 12. März brachten dann für die NSDAP folgende Ergebnisse: In Schwelm 40,3 Prozent, in Gevelsberg 38,8 Prozent, in Voerde 40,1 Prozent und in Milspe 37,4 Prozent. Dadurch gab es für die NSDAP im Schwelmer und auch im Gevelsberger Stadtrat je 13 Sitze, in Voerde 9 und in Milspe 8 Sitze. Besonders deutlich fiel der Nazi-Anteil im Milsper Ortsteil Rüggeberg aus. Die NSDAP erhielt zum Beispiel im Wahllokal Rutenbeck 71,4 Prozent der abgegebenen Stimmen – der Wirt war gleichzeitig NSDAP-Ortsgruppenführer. In Gevelsberg wurde Dr. Hanholtz zum Bürgermeister gewählt, in Voerde kam im April Dr. Fritz Römer als Nachfolger von Bürgermeister Schwalbenbach ins Amt. Alle waren sie Mitglied in der NSDAP.

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Zu der ersten Sitzung der Parlamente erschienen die Nationalsozialisten in den Braunhemden, in Milspe sogar einer in der SS-Uniform. Dort wurde in in der Harkortschule getagt – sie war mit einer Hakenkreuzfahne „geschmückt“. Die Schule war durch Polizeiposten gesichert, und als Zuhörer brauchte man eine Eintrittskarte. Zum Gemeindevorsteher wurde der Bankbeamte Hans Gerhard Dedeke gewählt. Das Amt hatte zuvor Julius Bangert von der SPD inne, den die Nazis danach als Leiter des Milsper Altenheims als politisch unzuverlässig entließen. Bis Kriegsende musste er mit seiner Familie als Selbstversorger leben, doch nach der Befreiung war er sofort wieder in der Politik für die SPD aktiv.

Schon vor der März-Wahl hatte die NS-Reichsregierung angeordnet, dass allen kommunistischen Mandatsträgern die Teilnahme an Sitzungen der Gemeinde-Parlamente verboten seien. Durch diese Maßnahme hatten sich also die Nazis in den Gemeinde- und Stadträten von Schwelm, Gevelsberg, Milspe und Voerde die absolute Mehrheit gesichert. In Schwelm hatten sie diese vorher schon durch die Zusammenarbeit mit den beiden Vertretern vom Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot.

Wenig später wurden auch alle anderen politischen Parteien im Reich außer der NSDAP verboten, und auch alle Vereine mussten das Führerprinzip einführen. Die braune Diktatur war somit auch auf örtlicher Ebene perfekt. Wie das Beispiel des großen Voerder Schützenvereins zeigt, wurden überall die Treueschwüre auf den Führer Adolf Hitler begeistert mitgemacht.

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