Schwelm. Euronics Becker schließt in Schwelm nach mehr als 90 Jahren. Geschäftsführer Michael Folle macht klar, dass Online-Handel gar nicht der Grund ist.

Ende. Aus. Die Entscheidung ist unumstößlich gefallen, auch wenn Geschäftsführer Michael Folle und sein Team gekämpft haben bis zum Letzten: Radio Becker – seit einigen Jahren Euronics Becker – schließt zum Jahreswechsel nach mehr als 92 Jahren komplett. Damit ist nach Wiemer und Kalthoff auch das letzten Radio- und Fernsehgeschäft in Schwelm Geschichte. Doch wer meint, das sei eine natürliche Entwicklung, weil der übermächtige Online-Handel gerade der Branche der Unterhaltungselektronik die Kunden aus den Geschäften zieht, der täuscht sich.

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„Der Hauptgrund liegt im Ukraine-Krieg, in der Energiekrise, der Inflation und in der Angst der Menschen vor einer wirtschaftlich ungewissen Zukunft“, sagt Michael Folle. Die Menschen würden als erstes an Dingen sparen, die nicht unbedingt notwendig seien, wenn sie sehen, dass lebensnotwendige Dinge wie Essen und Heizung größer werdende Teile ihrer Einkünfte verzehren. „Da muss es dann nicht mehr der neueste Fernseher sein, die beste Anlage, neue Kopfhörer oder Lautsprecher“, sagt der TV- und HiFi-Experte. Solche Investitionen schieben viele aktuell hinaus. Folle: „Das trifft die gesamte Branche mit voller Wucht. Auch online sind die Verkäufe zusammengebrochen seit Kriegsbeginn.“

Michael Folle ist seit 37 Jahren  – von seiner Ausbildung an – bei Radio Becker. Nun muss der Geschäftsführer den Laden schließen.
Michael Folle ist seit 37 Jahren – von seiner Ausbildung an – bei Radio Becker. Nun muss der Geschäftsführer den Laden schließen. © WP / Stefan Scherer | Stefan Scherer

Dabei hatte das Geschäft, das Anna und Paul Becker am 11. November 1930 eröffneten, so viele Täler bereits erfolgreich durchschritten: den Zweiten Weltkrieg, zwei Währungsreformen, eine Ölkrise, die Wirtschafts- und Immobilienkrise. Zuletzt hatte Radio Becker die Corona-Pandemie hervorragend gemeistert. „Wir gehörten in gewissem Maße sogar zu den Gewinnern“, sagt Michael Folle, dem die Zahlen der jüngsten Vergangenheit allerdings keine andere Wahl ließen, als das Geschäft aufzugeben. Denn zu den wegbrechenden Einnahmen – auch durch Verfall der Margen – gesellen sich teure Zwänge, denen sich Radio Becker nicht mehr länger hätte verwehren könne. „Euronics gibt vor, dass wir unsere Außenwerbung bald anpassen müssten, außerdem ist es unabdingbar, dass wir innen modernisieren“, sagt Michael Folle und geht über den dicken Daumen von etwa 40.000 Euro Investitionssumme aus. Ein weiterer Punkt, der das Aus zementierte.

Ein Team – eine Familie

Auch wenn Folle am Ende die letzte Entscheidung trifft, hat er doch alles stets mit dem Team besprochen. Denn auch wenn Radio Becker schon länger kein Familienbetrieb mehr ist: Alle sechs Männer, die dort arbeiten, haben in dem Laden mehr Zeit miteinander verbracht, als mit ihren Familien. 50 Stunden jede Woche schweißen zusammen – und das seit Jahrzehnten. „Ich selbst habe meine Ausbildung hier gemacht – vor 37 Jahren“, sagt der Becker-Chef, der damit bei Weitem nicht der Dienstälteste ist. Der arbeitet bereits seit 46 Jahren bei Radio Becker, selbst das Küken im Geschäft gehört schon seit mehr als 25 Jahren zur Truppe.

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Eine Mitarbeiterschaft, die seit fast 100 Jahren Menschen glücklich gemacht hat: Das Ohr zur Welt, als sie während der Kriegsjahre Radios an die Schwelmer verkauften; ein Stück Wirtschaftswunder, als einige Jahre danach ganze Familien ins Geschäft kamen, um den ersten Fernseher im Haus anzuschaffen - später sogar in Farbe. Tausende Teenager-Augen leuchteten, weil die erste Stereo-Anlage, der erste Kassetten-Recorder oder Plattenspieler direkt von Radio Becker aus unterm Weihnachtsbaum landete. „Wir haben immer davon gelebt, dass die Kunden zu uns in den Laden kommen, die Geräte sehen und hören konnten“, sagt Michael Folle. Parallel dazu betrieb Radio Becker wohl einen der fortschrittlichsten und größten Online-Shops der Stadt – doch das Pfund, mit dem das Fachgeschäft stets wuchern konnte, war das Fachwissen der Mitarbeiter, deren tiefe Verwurzelung vor Ort.

„Radio Becker“ so steht es seit vielen Jahrzehnten an dem Haus Hauptstraße 115 in Schwelm. Zum Jahreswechsel schließt das Traditionsgeschäft komplett.
„Radio Becker“ so steht es seit vielen Jahrzehnten an dem Haus Hauptstraße 115 in Schwelm. Zum Jahreswechsel schließt das Traditionsgeschäft komplett. © WP / Stefan Scherer | Stefan Scherer

Bis auf den Chef selbst haben sie alle – fünf Vollzeit-Kräfte und eine Aushilfe – mittlerweile neue Jobs gefunden, und bei der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt macht sich auch Michael Folle keine Sorgen um seine eigene berufliche Zukunft. „Ich bin mir sicher, dass auch ich problemlos etwas finde. Vorher möchte ich hier aber einen sauberen Schlussstrich ziehen, das fordert aktuell meine ganze Kraft.“ Wie sehr, das zeigen die ersten Kundenreaktionen. Am Donnerstag gab Euronics Becker auf Facebook das Ende des Fachgeschäfts bekannt und wurde von den Reaktionen der Schwelmer quasi überrannt. „Das sind ausschließlich Menschen, die uns sagen, wie Leid es ihnen tut“, sagt der Schwelmer Euronics-Chef und macht deutlich, für wen ihm selbst die Geschäftsaufgabe am meisten Leid tut. „Das sind die Älteren, die regelmäßig unseren Kundenservice nutzten, weil sie beispielsweise eine falsche Taste auf der Fernbedienung gedrückt haben und plötzlich kein Fernsehen mehr schauen können. So etwas gibt es in Schwelm dann nicht mehr.“

Räumungsverkauf startet

Weiterhin können alle Garantieansprüche bei jedem Euronics Händler deutschlandweit oder auch direkt beim Hersteller gestellt werden. Den Service übernimmt fortan Euronics von Thomas Meckel in Gevelsberg. Im Gegensatz zu den Schwelmern, die rein bei der Unterhaltungselektronik geblieben waren, hat er schon seit Jahren vermehrt auf Weiße Ware – Waschmaschinen, Spülmaschinen, Kühlschränke, und so weiter – gesetzt. Eine kaputte Waschmaschine ersetzen die Menschen auch in der Krise. „Vielleicht war das ein Fehler. Ich weiß es nicht, denn ansonsten sind wir mit unseren Konzepten stets sehr erfolgreich gewesen.“

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Ab Montag, 5. Dezember, beginnt der Räumungsverkauf. „Wirklich alles, was im Geschäft steht, muss raus. Egal ob Stereo-Anlage, TV-Gerät, Deko oder Möbel“, schreibt das Team auf Facebook und hat auch schon die ein oder andere kuriose Anfrage erhalten. So will der Erste, der sich überhaupt darauf gemeldet hat, gern die Fußbälle haben, die als Dekoration im Schaufenster liegen. „Wir können auch noch weiterhin Ware bestellen und bekommen Lieferungen“, sagt Michael Folle. Am 22. Dezember werden er und sein Team dann zum letzten Mal den Schlüssel in der Tür der Geschäftsräume an der Hauptstraße 115 umdrehen und mehr als 92 Jahre Radio- und Fernsehtechnik in Schwelm endgültig beschließen.

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