Ennepetal. Der Verein „Unsichtbar“ befürchtet, dass die extremen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln mehr Menschen in Obdachlosigkeit treiben.
Die steigenden Energiepreise, die viele Menschen erst in den kommenden Wochen mit voller Wucht treffen werden, Mieterhöhungen und eine starke Verteuerung bei Lebensmitteln treffen besonders die Schwächsten der Gesellschaft. Holger Brandenburg, Gründer und Vorsitzender des Vereins „Unsichtbar“, der sich für Obdachlose und Menschen, die in Armut leben, einsetzt, befürchtet, dass in Zukunft noch mehr Menschen auf der Straße landen werden. Sein dringender Appell: „Wenn jemand in der Nachbarschaft einen ältere Dame oder einen Herrn sieht, bei der oder dem das Geld offensichtlich nicht mehr reicht, oder ein Kind, das keine Schuhe anhat – man sollte niemanden verurteilen, sondern Nächstenliebe üben.“ Die könne nicht zuletzt darin bestehen, auf bestehende Hilfsangebote hinzuweisen. „Wir haben die Stadtverwaltungen und die großen Wohlfahrtsverbände wie Diakonie, Caritas und AWo. Da sitzen Profis, die wissen, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt“, so Brandenburg.
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„Wir befinden uns noch in der Auslaufphase von Corona, und da ist schon viel passiert: Man durfte nicht vor die Tür, war eingeschränkt, Selbsthilfegruppen haben ihre Treffen abgesagt“, erklärt Holger Brandenburg. Mancher habe zu Hause ein nicht so glückliches Umfeld. Wenn man es da nicht mehr ausgehalten habe, habe der Mann beispielsweise in die Kneipe gehen können, die Frau zu einer Freundin und das Kind zu Freunden. In Coronazeiten sei das lange nicht möglich gewesen. Einige seien aus diesen Situationen geflohen und am Ende auf der Straße gelandet. „Und jetzt stecken wir in der Energiekrise“, sagt Brandenburg. Noch vor sechs Monaten hätten die ehrenamtlichen Helfer von Unsichtbar e. V. beispielsweise in Wuppertal 10 bis 15 Personen namentlich gekannt, denen man nachts mit Tee, Kaffee, einem Schlafsack, Lebensmitteln oder einfach nur durch Zuhören geholfen habe. „Jetzt sind es 79“, so Brandenburg. Ein ähnliches Bild zeige sich in Hagen. „Ob sie alle obdachlos sind, wissen wir nicht. Vielleicht sind einige wohnungslos oder bei ihnen ist die Wohnung kalt und sie setzen sich zu den Obdachlosen und lassen sich einen Kaffee geben“, meint er.
„Was wir beobachten ist, dass die Menschen, um die wir uns kümmern, immer jünger sind“, sagen Holger Brandenburg und die Zweite Vorsitzende von Unsichtbar, Beate Wachsmann, unisono. „Die Jüngste, der wir begegnet sind, war 13“, so Brandenburg. „Wir haben sie gemeldet, das ist unsere Pflicht. Wo sie jetzt ist, wissen wir nicht, denn sie war von den Behörden nicht mehr auffindbar.“
Ehrenamtliche Kräfte und Spenden willkommen
„Unsichtbar e. V.“ wurde 2015 auf Initiative von Holger Brandenburg gegründet. Bis heute hat er den Vorsitz inne. Aktuell hat der spendenfinanzierte Verein 42 Mitglieder, davon einige reine Fördermitglieder. Zwölf Aktive sind im Straßenteam nachts unterwegs, um Obdachlosen Hilfe anzubieten, acht arbeiten in einer Projekt- und Ideengruppe.
Der Verein hilft Obdachlosen mit Tee, Kaffee, kalten Getränken, Fünf-Minuten-Terrinen, Süßigkeiten, Pflastern, Mullbinden, Hygieneartikeln, minustemperaturgeeigneten Schlafsäcken, Rettungsdecken, neuer Unterwäsche, Socken und T-Shirts. Außerdem stehen die ehrenamtlichen Mitarbeiter für Gespräche bereit und verteilen Info-Flyer zu Hilfsangeboten und Anlaufstellen.
Unterstützt werden auch bedürftige Familien. Zudem gibt es die Aktion „Herzkalender“ (www.herzkalender.com“), durch die bedürftigen Familien in Hagen und im EN-Kreis ermöglicht wird, einen schönen, unbeschwerten Tag, beispielsweise im Zoo oder einem Freizeitpark zu verbringen.
Der Verein ist aktuell für den Publikumspreis des Deutschen Engagementpreises nominiert. Abstimmen kann man für „Unsichtbar e. V." unter deutscher-engagementpreis.de.
Über neue ehrenamtliche Helferinnen und Helfer freut sich das „Unsichtbar“-Team immer. Kontakt: info@unsichtbar-ev.de, 02333/6084982.
Spendenkonto: Unsichtbar e. V., IBAN: DE97 4545 0050 0000021832 (Sparkasse an Ennepe und Ruhr), Paypal: www.paypal.me/unsichtbarev.
Holger Brandenburg betont, dass es in den Südkreisstädten Schwelm, Gevelsberg und Ennepetal nur ganz wenige Obdachlose gebe. „Wenn wir die Wälder durchstreifen würden, würden wir vielleicht das eine oder andere Zelt finden“, meint er. In Gevelsberg kenne er zwei Obdachlose, die sich aber gut verstecken würden, in Ennepetal sei es einer. „Wenn sich hier Obdachlose aufhalten, dann meistens, wenn sie zum Beispiel von Wuppertal nach Hagen tingeln, weil sie meinen, da besser ,Platte machen’ zu können“, erklärt der Vereinsvorsitzende. Brandenburg betont den Unterschied zur Wohnungslosigkeit, bei der Betroffene zwar keine eigenen vier Wände mehr haben, aber zumindest noch bei Freunden, Familie oder in Unterkünften Unterschlupf finden.
In Notlagen Hilfe suchen
Von der Wohnungslosigkeit sei es nur ein schmaler Grat zur Obdachlosigkeit, betonen Holger Brandenburg und Beate Wachsmann. Gerade jetzt in der Energiekrise stünden die Menschen, die im Niedriglohnsektor tätig sind, vor großen finanziellen Problemen. Sozialleistungsempfänger wüssten in der Regel, was sie an Hilfen bekommen. „Geringverdiener haben am Ende oft weniger als Hartz-IV-Empfänger“, erklärt Beate Wachsmann. Vielen sei nicht bekannt, dass ihnen Leistungen wie Wohngeld oder Aufstockungen zustehen. Für Rentner gibt es auch eine Grundsicherung. „Und die Wohnungslosenhilfe der Diakonie – für die Südkreisstädte ist die in Schwelm zu finden – berät schon, wenn der Verlust der Wohnung droht. Das wissen die Meisten gar nicht“, betont Wachsmann. Wichtig sei, dass die Betroffenen Hilfe suchen. „Die Leute, die sich wirklich an Einrichtungen wenden, ob in Hagen, Wuppertal oder dem Ennepe-Ruhr-Kreis, erhalten Hilfe“, meinen die Vereinsvorsitzenden. „Die Städte sind sehr hilfsbereit, da hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Aber natürlich muss man auch mitarbeiten.“
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Holger Brandenburg ärgert sich über Äußerungen, dass drei Viertel der Obdachlosen ja Trinker seien. „Viele werden erst auf der Straße alkoholabhängig. Und Alkoholismus ist eine Krankheit“, stellt er klar. Eines ist Holger Brandenburg und Beate Wachsmann grundsätzlich besonders wichtig: „Es gibt viele Gründe für Obdachlosigkeit: Alkoholismus, Drogenkonsum, Depressionen, Liebesentzug in der Familie oder eben auch eine finanzielle Notlage. Wir dürfen diese Menschen einfach nicht verurteilen.“