Schwelm/Gevelsberg/Ennepetal. Im Interview spricht Astrid Hinterthür, Leiterin des EN-Gesundheitsamts, über den Corona-Sommer und ihre Prognosen für Herbst und Winter.

Zehntausende feiern auf den großen und kleinen Festen im Ennepe-Ruhr-Kreis während gleichzeitig die Krankenstände wegen Corona in den Firmen hoch sind wie nie zuvor. Während die Hygiene-Regeln fallen, steigen die Inzidenzen im Kreis weiter und weiter. Ist das die neue Normalität? Welche Prognosen gibt es für den Herbst und haben Veranstalter überhaupt noch mal eine Chance, große Partys im Winter zu feiern? Astrid Hinterthür, Leiterin des Krisenstabs des Ennepe-Ruhr-Kreises bewertet die aktuelle Situation und blickt in die Glaskugel.

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Die Corona-Inzidenz im EN-Kreis ist zuletzt deutlich gestiegen. Haben wir es hier schon mit BA5 zu tun, jener Variante, die zuerst in Portugal aufgefallen war, oder was ist der Grund?

Seit der zweiten Kalenderwoche dieses Jahres ist Omikron vorherrschend bei uns. Der BA5-Anteil steigt stetig, verdoppelt sich nahezu von Woche zu Woche. So war es in der Vergangenheit auch stets, bis eine neue Variante kam, und die alte ablöste.

Dieser dritte Pandemie-Sommer ist ein anderer, und die meisten Menschen sind sehr froh darüber. Ganz nüchtern und ohne erhobenen Zeigefinger: Sorgen Feste und insbesondere große wie die Gevelsberger Kirmes für höhere und schneller steigende Fall-Zahlen – und kann das nicht jeder eigenverantwortlich in Kauf nehmen?

Es gibt derzeit keine Schutzmaßnahmen und jeder bestimmt selbst, wie sehr sein eigenes Verhalten eine Ansteckung provoziert. Man sollte auf sein Gefühl hören. Ich ganz persönlich setze im Supermarkt oder wenn zu viele Menschen zusammenkommen, weiter eine Maske auf. Aus Sicht des Gesundheitsamts ist es wichtig zu betonen, dass es auch weiterhin Long Covid gibt. Auch wer nicht ins Krankenhaus kommt, muss möglicherweise lange mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen leben.

Manche Menschen gehen auf Feste, vermeiden aber Besuche in Hallen. Ist das übertrieben?

Das ist relativ. Natürlich ist die Übertragbarkeit bei Veranstaltungen im Freien wie Rock am Ring vor der Bühne geringer. Dort finden allerdings die Infektionen in den Duschen und Toiletten statt. Und selbstverständlich ist die Ansteckungsrate in Hallen, in denen Menschen dicht gedrängt stehen, höher.

In den Krankenhäusern befinden sich aktuell kaum Menschen mit Corona, auf den Intensivstationen nur sehr wenige: Sind sie gelassen oder in Sorge, wenn Sie auf die Auswirkungen der Inzidenzen schauen?

Im Januar hatten wir sehr viele Intensivpatienten, aktuell ist die Belegung der Krankenhausbetten mit Corona-Patienten leicht planbar. Bei den meisten Corona-Fällen im Krankenhaus ist die Infektion festgestellt worden, als sie dort wegen ganz anderer Dinge angekommen sind. Zwei Probleme gibt es. Erstens: Je höher die Zahl der Infizierten generell ist, desto höher ist auch die Zahl derjenigen, die in der kritischen Infrastruktur arbeiten und deshalb ausfallen. Zweitens: Jetzt, wo die Masken fallen und die Menschen sich wieder näher kommen, strömt plötzlich mit voller Wucht wieder alles auf das Immunsystem ein, das zuletzt recht abgeschottet war. Heißt: Auch anderen Krankheiten treten wieder häufiger auf.

Nur noch positiv PCR-Getestete gehen in die Statistik ein. Die wahre Inzidenz müsste daher um ein Vielfaches höher liegen. Können Sie eine Schätzung dazu abgeben?

Das ist eine schwierige Frage. Wir bekommen ja auch die positiven POC-Test-Ergebnisse von den offiziellen Stellen übermittelt. Die meisten haben sich sicherlich anschließend noch um einen PCR-Test bemüht. Man kann natürlich die Zahlen addieren, kommt dann aber wegen der Doppelungen an unterschiedlichen Tagen nicht auf die korrekten Werte. Wir schätzen derzeit, dass etwas 30 Prozent der positiven POC-Tests nicht in die Statistik einfließen.

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Es wird in der Politik viel über den Herbst gesprochen. Womit rechnen Sie mit Ihrer Erfahrung?

Die Erfahrung zeigt: Die Zahlen werden steigen. Sowohl 2020 als auch 2021 hatten wir starke Sprünge im Oktober, einen solchen Sprung erwarten wir nun erneut. Aber im Juli 2021 lag die Inzidenz unter zehn, jetzt bei deutlich über 300. Wir starten also von einem ganz anderen Niveau in den Herbst und rechnen für den Ennepe-Ruhr-Kreis mit Inzidenzen zwischen 1500 und 2000.

Mal angenommen, die Politik entscheidet sich wieder für Maßnahmen ab dem Herbst: Müssten wir dann nicht künftig jeden Herbst damit rechnen? Das Corona-Virus verschwindet doch nicht mehr. Was wäre im Herbst 2023 anders als im Herbst 2022?

Wir gehen beim Gesundheitsamt stets von drei unterschiedlichen Szenarien aus: günstig, mittel und ungünstig. Wir rechnen für den bevorstehenden Winter mit der mittleren Variante. Die krankheitsbedingten Arbeitsausfälle lassen sich sicherlich mit Masken und Kontaktreduzierungen kompensieren. Wichtig ist aus unserer Sicht, dass die Impfkampagne in Schwung kommt, ebenso wie das Testen, das sicherlich zu einem ungünstigen Zeitpunkt kostenpflichtig wird, weil wir viele Infektionen zu einem frühen Zeitpunkt festgestellt haben. Aus unserer Sicht müssen zudem die Kitas und Schulen geöffnet bleiben, wir haben festgestellt, dass die Kinder sehr gelitten haben. Eine Pandemie kann sich zu Tode mutieren, das muss aber nicht sein. Egal, welche Regeln im Herbst gelten, ich rate beispielsweise vom Händeschütteln ab.

Viele Menschen sind pandemiemüde. Können Sie das nachvollziehen?

Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich kann zwar persönlich mit vielen Dingen gut leben und bin auch nicht diejenige, die mit Wonne auf Riesenfeiern geht, aber meinen Sport beispielsweise habe ich sehr, sehr stark vermisst. Auch ich habe vieles als einschneidend empfunden.

Die Impfbereitschaft lässt mit jeder weiteren Dosis nach: Kommt nach der vierten die fünfte und sechste…?

Das größere Problem sehe ich darin, dass viele gern die vierte Impfung gehabt hätten, Impfstoff vorhanden war, sie aber nicht geimpft werden durften. Die Stiko (Ständige Impfkommission, Anm. d. Red.), an die sich die Impfzentren halten müssen, empfiehlt die vierte Impfung ab dem 70. Lebensjahr. Da ist es wenig hilfreich, wenn Karl Lauterbach im Fernsehen gleiches für das 60. Lebensjahr empfiehlt. Eine Prognose kann ich dazu aber derzeit eher schlecht abgeben.

Der Ennepe-Ruhr-Kreis hat seine Impfangebote bereits auf ein Minimum reduziert. Wie schnell können Sie reagieren, wenn dies notwendig sein sollte?

Wir haben die Zusage vom Bund, dass wir das Impfzentrum bis zum 26. November dieses Jahres finanziert bekommen und haben den Mietvertrag bis Ende des Jahres geschlossen. Wenn es notwendig sein sollte, könnten wir innerhalb von zwei Tagen zwei Impfbahnen in Betrieb nehmen und dort 400 Menschen pro Tag impfen. Wir sind also handlungsfähig. Alles darüber hinaus müssten wir zuvor mit dem DRK besprechen, ob dort das Personal vorhanden ist.

Gevelsberger Kirmes und Schwelmer Heimatfest können annähernd wie vor der Pandemie stattfinden. Was können Sie Veranstaltern mitteilen, deren Feste zwischen Herbst und Frühjahr stattfinden? Können Sie Ihnen Mut machen?

Das ist schwierig und von vielen Faktoren abhängig. Welche Variante herrscht gerade vor? Wie hoch ist die Inzidenz? Was entscheidet die Politik? Es wird ohnehin so sein, dass einige Leute weiterhin und im Winter verstärkt Menschenansammlungen meiden. Weihnachtsmärkte oder andere Freiluftveranstaltungen laufen ja problemlos. 2000 Leute eng zusammen in einer Halle kann ich mir schwer vorstellen, aber kleinere Veranstaltungen mit bestimmten Hygiene-Konzepten sind durchaus denkbar – 2G, 3G, Desinfektion, Schnelltest, Maskenpflicht, all die Dinge, die wir schon kennen.

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Welche Wünsche haben Sie an die neue schwarz-grüne Landesregierung?

Dass Entscheidungen schneller getroffen werden, damit die handelnden Personen schneller Klarheit haben.