Gevelsberg. Ein Mann hat in Gevelsberg einen Polizisten angeschossen. NRW-Innenminister Reul ist entsetzt: “Polizeibeamte gelten offenbar als vogelfrei.“
Plötzlich peitschen Schüsse durch die Nacht, ein Polizist geht verletzt zu Boden. Nur Minuten später ist Gevelsberg hermetisch abgeriegelt, die ganze Stadt ist voller Polizei. Ein Sondereinsatzkommando durchstreift die Hinterhöfe, Panzerwagen rollen durch die Straßen, ein Hubschrauber kreist über der Stadt. Vier Stunden lang jagen die Beamten einen bewaffneten Mann, der nicht zögert, auf Menschen zu schießen. Dann schlägt die Kugel eines SEK-Mannes in seinen Oberschenkel ein. Zugriff, Verhaftung, Gefahr gebannt. Am nächsten Tag sind viele Fragen offen, denen die Staatsanwaltschaft Hagen, die wegen versuchten Mordes ermittelt, nun nachgeht.
Dabei fing alles recht harmlos an. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch um 23.55 Uhr fällt einer Streifenwagenbesatzung auf der Mühlenstraße in Höhe der Kartbahn ein schwarzer 5er BMW älteren Modells auf, der ein Oberhausener Kennzeichen trägt. Wohl aufgrund des Fahrstils, so teil die ermittelnde Staatsanwältin Sandra Ley mit, entscheiden sich die beiden Polizisten dazu, den Fahrer auf möglichen Drogenkonsum zu testen. „Er war zunächst auch sehr kooperativ, gab ohne Diskussion eine Urinprobe ab.“ Doch dann ändert sich die scheinbar ruhige Situation binnen Sekundenbruchteilen. Der 36-jährige deutsche Ennepetaler hechtet in sein Auto, hat plötzlich eine Schusswaffe in der Hand und eröffnet das Feuer auf die beiden Polizisten.
Fluchtwagen zu Schrott gefahren
Während ein 28-jähriger Beamter nach einem Treffer schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt zu Boden geht, zieht sein Kollege sofort die Dienstwaffe und erwidert das Feuer. Der Ennepetaler hingegen rast mit dem schwarzen Kombi in Richtung der Gevelsberger Innenstadt davon. Doch weit kommt er nicht. Vor der Sparkasse kracht er über die Verkehrsinseln, zerstört seinen Wagen. Diesen lässt er mit platten Reifen und ausgelöstem Airbag auf der Kreuzung Mittelstraße/Hagener Straße stehen, flüchtet zu Fuß weiter.
In kürzester Zeit ist die gesamte Stadt voller Polizisten. Niemand weiß genau, wie der Mann aussieht, wohin er geflüchtet ist, wie viel Munition er hat und ob er auch auf andere Menschen schießt. Die Sammelstelle für die Beamten wird am Busdepot der Verkehrsbetriebe VER in Ennepetal eingerichtet. Ein Hubschrauber kreist unablässig in der Luft, schwer gepanzerte Wagen rollen über die Hagener Straße und durch die Nebenstraßen. Beamte durchstreifen die Gegend mit Spürhunden, überall zucken Blaulichter Die Polizei hält jeden Autofahrer an; jeder Fußgänger, auf den die Beamten treffen, muss sich mit dem Gesicht an eine Wand stellen, wird durchsucht und angewiesen, so schnell wie möglich nach Hause zu gehen. „Rein, rein, rein! Köpfe weg vom Fenster!“, rufen die Polizisten den Menschen entgegen, die von dem Tumult vor ihren Haustüren aus dem Schlaf gerissen wurden. Das dient zu ihrem eigenen Schutz.
Auch auf SEK-Kräfte geschossen
Vier Stunden lang suchen die Einsatzkräfte konzentriert nach dem Flüchtigen, die Lange ist angespannt. Polizisten mit Maschinenpistolen bestimmen das Bild wohin das Auge auch blickt. Dann nehmen drei Männer des Sondereinsatzkommandos einen Hinterhof an der Brüderstraße in Gevelsberg in Augenschein – Luftlinie höchstens 50 Meter von dem verlassenen Fluchtwagen entfernt. Wieder fallen Schüsse, wieder ist es der Ennepetaler, der das Feuer auf die Polizisten eröffnet. Diesmal trifft er nicht, dafür einer der drei SEK-Männer, die auf ihn schießen. Eine Kugel schlägt in seinem Oberschenkel ein. Der Ennepetaler, kann keinen Widerstand mehr leisten. Die Spezialkräfte überwältigen den 36-Jährigen, der durch den Treffer ebenfalls schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt wird.
Unter enormen Schmerzensschreien bringen die Polizisten den Schützen in einen Rettungswagen, mit dem er in das Krankenhaus nach Wuppertal-Barmen gebracht wird, wo er aktuell unter Polizeibewachung auch noch liegt – vor allem damit er nicht flieht. „Der Mann ist derzeit aufgrund seiner Verletzungen noch nicht vernehmungsfähig. Wann das der Fall sein wird, ist auch noch unklar“, teilt Sandra Ley mit. Ebenso unklar ist, ob er weitere Verletzungen davon getragen hat. Darüber wird erst der Arztbericht detaillierten Aufschluss geben, der bislang allerdings noch nicht vorliegt. „Ich gehe davon aus, dass der Verdächtige bald in ein Justizkrankenhaus verlegt wird. Wir beabsichtigen, ihn in Untersuchungshaft zu bringen“, sagt die Staatsanwältin im Gespräch mit dieser Redaktion.
Illegale Schusswaffe
Am Anfang stehen dementsprechend auch noch die Ermittlungen zu den Hintergründen dieser Schreckenstat. So ist die Motivlage – zu der wohl nur der Ennepetaler selbst eine Auskunft geben kann – noch völlig offen. Fest steht nur, dass er in naher Zukunft eine Haftstrafe hätte antreten müssen. „Dabei handelt es sich allerdings um eine eher geringe Strafe, und es handelt sich auch nicht um ein Gewaltdelikt“, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Generell sei der 36-Jährige bislang wegen Gewaltverstößen nicht in Erscheinung getreten. Ob Drogen eine Rolle bei der erschreckenden Tat in Gevelsberg gespielt haben, wird ein Testergebnis klären. Sicher scheint zu sein, dass der Verdächtige nicht im Besitz eines Waffenscheins war. „Wir gehen derzeit davon aus, dass es sich um eine illegale Schusswaffe handelt“, sagt Sandra Ley, die im Laufe des Donnerstags neue Erkenntnisse erwartet und wegen versuchten Mordes ermittelt.
Schock im Kollegenkreis
Betroffenheit und ein kollektiver Schock über den brutalen Angriff herrschen auch in der Kreispolizeibehörde des Ennepe-Ruhr-Kreises. Die Beamten sind mit ihren Gedanken bei ihrem 28-jährigen Kollegen, der nach Informationen dieser Zeitung Glück im Unglück gehabt hat. Denn das Projektil, das der 36-Jährige auf ihn abgefeuert hat, soll lediglich in die Schutzweste des Streifenpolizisten eingeschlagen und dort stecken geblieben sein. Dennoch soll der Mann, der mindestens eine extrem schwere Prellung davon getragen hat, weiterhin im Krankenhaus bleiben.
Nicht nur aus dem Kollegenkreis richten die Menschen die Wünsche einer schnellen Genesung an ihn. Auch in den sozialen Netzwerken, wo die Tat für sehr viel Aufsehen sorgt, sind die Bürger mit ihren Gedanken bei dem Gesetzeshüter, der im Einsatz schwer verletzt wurde und wünschen ihm eine gute Besserung.
Reul entsetzt: "Polizeibeamte gelten offenbar als vogelfrei"
NRW-Innenminister Herbert Reul zeigte sich angesichts der Schüsse entsetzt: "Der Vorfall zeigt: Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über Gewalt." Erst am vergangenen Mittwoch war ein Polizeibeamter in Gelsenkirchen ums Leben gekommen, nachdem auf ihn geschossen worden war. „Irgendwas ist verrutscht, dass Polizeibeamte inzwischen offenbar als vogelfrei gelten. Das fängt bereits bei kleinen Respektlosigkeiten im Alltag an und steigert sich dann zu solchen Angriffen wie heute Nacht in Gevelsberg“, so Reul.
Dem verletzten Beamten wünschte der Innenminister gute Besserung und viel Kraft bei der Verarbeitung dieses traumatischen Erlebnisses. „Der Beruf des Polizisten ist lebensgefährlich, das gilt nicht nur für Spezialeinheiten, sondern für jeden, der auf der Straße seinen Dienst verrichtet. Umso wichtiger ist es, alles zu tun, um diese Männer und Frauen, die für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger dieses Risiko jeden Tag eingehen, bestens zu schützen“, so Reul.
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