Balve. Tausende Menschen deutschlandweit engagieren sich in Selbsthilfegruppen. Betroffene haben immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen.
Das Bein wippt nervös auf und ab. Mit der Hand klopft sich der kleine Junge auf den Oberschenkeln herum. „Zappel-Phillipp“ nannte man solche Kinder früher lapidar. Dass hinter einer impulsiven und bisweilen unausgelasteten Persönlichkeit allerdings eine ernste Stoffwechselkrankheit stecken kann, das sorgt auch 2024 noch immer für Vorurteile. Wie sich Selbsthilfegruppen inzwischen organisieren und welche Angebote es rund um Balve für Betroffene gibt.
Gesundheitscampus eine logische Anlaufstelle
Gut 150 Gruppen gibt es kreisweit mittlerweile, schätzt Tina Stahlschmidt vom Kontaktbüro Pflegeselbsthilfe. Offiziell zumindest. Die Dunkelziffer derer, die sich dann doch eher anonym treffen, könne man derzeit nicht genau bestimmen. Und das hat seine Gründe. Denn noch immer herrscht in Sachen Selbsthilfe ein gewisses Schubladendenken. Klar, wer will schon geoutet werden, wenn er – oder sie – sich zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker schleicht? Was mit Scham und Vorurteilen behaftet ist, entspricht allerdings keinesfalls der Realität, wie Tina Stahlschmidt erklärt. Sie selbst hat eine Gruppe für Menschen mit Morbus Menière gegründet. „Die Schwindler“ bezeichnet dabei die Teilnehmer, die unter einer Gleichgewichtsstörung durch Flüssigkeit im Innenohr leiden und mitunter umhergehen, „als hätte man drei Promille intus“, sagt Stahlschmidt. Doch nicht jeder Mensch geht mit gesundheitlichen Problemen so offensiv um, wie etwa Stahlschmidt selbst. Das mache es auch schwierig, überhaupt Gleichgesinnte zu finden. Die Wertung von Außen über Krankheiten führe oft dazu, dass sich Betroffene „nicht aus ihrem Schneckenhaus heraus trauen“. Und genau hier wollen Stahlschmidt und ihre Kollegin Ina Rath helfen: Angebote bekannter machen.
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Was Selbsthilfegruppen leisten können – nämlich Betroffenen einen geschützten Ort bieten, an dem sie unter Gleichgesinnten ohne Vorurteile über Probleme reden können –, das zeigt jetzt eine Wanderausstellung im Gesundheitscampus Balve. Ganz offen über ihre kleinen Problemchen spricht dort zur Ausstellungseröffnung unter anderem Angelika Nyberg. Sie hat – wie rund ein Dutzend Gäste im Foyer des Campus‘ – ADHS.
Nyberg trifft in Balve dabei auf Menschen, die ganz offen und unverblümt mit ihrer Diagnose umgehen – und nun aufklären wollen. Menschen mit einem Aufmerksamkeitsdefizit- oder einer Hyperaktivitätsstörung neigen dabei oft zu Extremen: höhere Risikobereitschaft, Drogenkonsum, Angststörungen gehören dazu, wie Nyberg auch mit einem kleinen Augenzwinkern erklärt: „Mit einem ADS‘ler wird es nie langweilig.“ Doch eben jene Probleme können auch zu Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen führen: Beruf, Privates, Familie. Überall türmen sich – zumindest, wenn die Krankheit unentdeckt und unbehandelt bleibt – über kurz oder lang Hindernisse auf. „Alles wird exzessiv gemacht“, sagt Nyberg.
Angebote bekannter machen
Im Gesundheitscampus ist das Thema Selbsthilfe für Bürgermeister Hubertus Mühling (CDU) in jedem Fall bestens aufgehoben. Die Banner und Infoheftchen, die in den kommenden sechs Wochen das Foyer des Campus zieren, sorgen auch bei Balves Stadtoberhaupt für Nachdenken: „Es gibt bei uns definitiv zu wenig solcher Gruppen. Wir könnten mehr gebrauchen – zu sämtlichen Themen.“ Worte, die buchstäblich Wasser auf die Mühlen von Ina Rath sind. Denn ohnehin seien Selbsthilfegruppen die vierte Säule im Gesundheitssystem. „Sie werden nur leider sehr oft vergessen“, sagt die Expertin. Doch nicht ohne Grund würden Kurse und Gruppen von der Krankenkasse gefördert. Hilfe zur Selbsthilfe ist in diesem Fall keine abgedroschene Floskel, sondern ein Prinzip. Dabei können die Angebote der Gruppen nicht nur einen gesundheitsfördernden Charakter haben, sondern ebenso soziale Interaktion fördern. Zum Beispiel in Lüdenscheid: „Dort hat sich mittlerweile eine Männergruppe gegründet“, erklärt Ina Rath.
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Welche Hürden es für Menschen gibt, die eine solche Gruppe gründen wollen – dabei beraten Rath und Stahlschmidt. Das führt über die ersten Treffen bis hin zu Schulungen für die Leitung der Gruppensitzungen. Die beiden nehmen Betroffene an die Hand und begleiten sie durch den Bürokratie-Dschungel Selbsthilfegruppen. „Viele wissen nicht, was auf sie zukommt“, sagt Ina Rath. Nach den ersten gemeinsamen Schritten müsse sich die Gruppe aber „nach drei, vier Treffen“ selber tragen und organisieren können; denn genau darin liege eben auch der Sinn der Sache. Hilfe, die auch Angelika Nyberg seinerzeit in Anspruch genommen hätte. „Wenn ich das damals gewusst hätte...“, sagt sie. Die 69-Jährige hat sich selbst durchgeschlagen – und weiß mit ihrer Art zu begeistern.