Balve. Hinter heimischen Hilfsaktionen für die Ukraine steht eine starke Frau: Natalya Franz. Was treibt sie an?
Die Rückbank des schwarzen Audis, der mit leichter Verspätung auf den Parkplatz vor dem Wirtshaus Ballova rollt, ist bis zum Dach vollgepackt mit Umzugskartons, Kisten und Tüten. Dazu kommt gleich noch eine Jutetüte mit Lebensmitteln, überreicht von einer ukrainischen Frau, die als Kriegsgeflüchtete in Balve lebt. Zurück gibt es einen Umschlag, der ein wichtiges Schreiben für die Frau enthält. Während der gemeinsamen Wartezeit hat die Frau im Gespräch der WP-Reporterin ohne großes Aufhebens trotz ihrer beschränkten Mittel eine Süßigkeit angeboten, um sich gemeinsam die Wartezeit zu vertreiben – nur zwei symbolträchtige Bilder, die den Nachmittag mit Natalya Franz prägen sollen. Denn die Verabredung im Wirtshaus gilt ihr, selbst gebürtige Ukrainerin, die seit dem Beginn des brutalen Angriffskriegs öfters in der Zeitung steht, da sie mit Aktionen alle Hebel in Bewegung setzt, um ihren Landsleuten, sowohl in Deutschland wie auch in der Ukraine, mit Hand und Herz zu helfen.
+++ BALVE HILFT UKRAINE +++
Eine starke Balver Frau, aber auch eine sehr dankbare, wie das Gespräch mit ihr offenbart. Sie sei aber kein „Zauberstab“: Sie helfe den Menschen dabei, sich selbst zu helfen. Sei es mit Rat und Tat oder dem Netzwerk, das sie in Balve, ihrer Heimatstadt Sundern, Arnsberg und Meschede aufgebaut hat.
Die Verspätung erklärt sich schnell: Paletten mit Hilfsgütern mussten für den Weitertransport umgepackt werden, zu Hause wartet ihr kranker zehneinhalb Jahre alter Sohn Daniel, die Sammelaktion für Kerzen ist in vollem Gange.
Nur drei Punkte an diesem Tag, die immer wieder Aufmerksamkeit von Natalya Franz fordern. Schon hier wird sie deutlich: die anstrengende Jonglage zwischen Familie, Beruf und dem Wunsch zu helfen. Ihr erster Dank gilt dann auch ihrer Familie, ihrem Mann Eugen (47), dem Sohn und der 26-jährigen Tochter Yulia aus erster Ehe, die Natalya Franz mit 45 bereits zur zweifachen Oma gemacht hat: „Durch ihre Geduld unterstützen sie mich, übernehmen für mich Erledigungen und verstehen, dass ich das machen muss. Das ist nicht selbstverständlich, aber unsere Basis ist Vertrauen“, sagt sie.
„Mein Leben ist wie ein Film im Schnellvorlauf.“ Natalya Franz‘ Tag beginnt früh morgens mit ersten Telefonaten zu Fragen und Bitten um Hilfe in ihren Netzwerken für Geflüchtete und dem Sohn, der in die Schule verabschiedet werden will. Dann folgen ihre Arbeit für das „Haus Drei Könige“ in Balve als Buchhalterin und die Hilfsaktionen, die jeden Tag viele Stunden Zeit in Anspruch nehmen. Er endet meist erst spät am Abend.
Derzeit sammelt Natalya Franz nicht nur Kerzen, damit diese in der Ukraine zu umfunktioniert werden können, die nicht nur Licht, sondern auch Wärme und die Möglichkeit des Kochens ohne Strom ermöglichen. „Eine Aktion war im Angesicht des kommenden Winters nicht genug, da habe ich gleich eine zweite gestartet“, erklärt Natalya Franz.
Nebenbei betreut sie ihre „Zaubermädchen“, die weihnachtliche Kleinigkeiten basteln, die für die nächste Hilfsaktion verkauft werden sollen – etwa bei Konzerten des Chors „Chervona Kalyna“, der sich aus geflüchteten Frauen aus der Ukraine zusammengefunden hat. Wohin das Geld gehen soll, wird entschieden, wenn es da ist. „Das machen wir von aktuellen Gegebenheiten abhängig“, erklärt Franz, die stolz neben Engeln, Gemälden und gehäkelten Schneeflocken traditionelle „Motanka“ zeigt, die ihre Zaubermädchen fertigen: wunderschöne gewickelte Puppen in ukrainischer Tracht. Franz macht sich Sorgen, denn wenn wir hier in Deutschland über den einen oder anderen Tag unter null klagen, gibt es in der Ukraine harte Winter mit längeren Kältephasen bei minus 20 Grad Celsius – jetzt, durch die von den Russen zerstörte Infrastruktur, ohne Strom und Wärme. „Ich wusste, wenn ich jemandem helfe, hilft jemand anderes meiner Familie in der Ukraine.“
Angefangen hat Franz‘ Engagement mit dem privaten Wunsch, ihrer Familie im umkämpften Winnitsja zu helfen. Durch die Balver Schützenbruderschaft St. Sebastian, die im Frühjahr Hilfe für ihre eigene Hilfsaktion suchte, wuchs ein erstes Netzwerk samt tränenreichem Treffen in der Balver Höhle: „Die Schützen sind für mich zu ‚Schützen-Engeln‘ geworden.“ Vier Lkw und 11.000 Euro kamen für die Ukraine zusammen, das motivierte Natalya Franz weiter, ihre Fähigkeiten für die Ukraine einzusetzen. „Ich kann sehr gut organisieren und finde die richtigen Worte, um mit Menschen zu sprechen.“
Dabei hat sie vieles über sich selbst gelernt, sei jetzt ein anderer Mensch. Immer wieder kommt das Gespräch auf ihren neu erwachten Glauben, der eigentlich seit Kindheitstagen in ihr schlummert – dank ihrer Oma Vera. Ihrer Zweitoma, die Person, die Franz neben ihren eigenen Eltern Sergej und Anna am stärksten geprägt hat. Natalya Franz ist dankbar für alles, das sie erreicht hat, fühlt sich dabei „von oben“ gelenkt. Sie sei philosophischer, spiritueller geworden, sagt sie. „Menschen werden durch schlimme Ereignisse wachgerüttelt. So schlimm der Krieg ist, ich fühle mich durch ihn seelisch erwachsener, reifer.
Ich fühle Menschen innerlich, nicht mehr nur oberflächlich“, beschreibt sie dieses Gefühl des Geleit-Werdens. Geprägt hat diese Sichtweise Oma Vera, die sie in ihrer Kindheit für Monate in Ladyzchinski Chutory, einem kleinen Dorf, besuchte. „Es ist nicht wichtig, zur Kirche zu gehen, aber Gott muss man immer in sich tragen“, das hätte Oma Vera ihr beigebracht, erzählt Franz. Darum sagt Natalya Franz jeden Abend wenigstens einmal für sich Danke, besucht Kirchen, wenn sie einen Moment Ruhe vom Alltag braucht, und zündet eine Kerze für alle an, an die sie denkt.
+++ DIE HILFSAKTION FÜR DIE UKRAINE: SO GROSS WAR DIE FREUDE +++
Obwohl sie sich etwas Ruhe (und vielleicht einen längeren Urlaub im engsten Kreis ihrer Familie) wünscht, will sie für die Ukraine weitermachen, da sie sich dazu verpflichtet fühlt und daran wächst.Am Ende des Gesprächs bedankt sie sich sogar für die Möglichkeit, die es ihr geboten habe: Rückblick zu halten, das offenbare viel über einen selbst. Auch dafür sei sie dankbar.„Ich weiß ganz genau, wofür ich lebe, warum ich morgens aufstehe: meine Familie, meine Kinder und die Ukrainer und Ukrainerinnen, denen ich helfen will. Ich freue mich auf morgen.“ Und schon steht jemand am Tisch, Natalya Franz‘ Chefin aus dem Haus Drei Könige, Gastronomin Ina Friedriszik, und fragt, ob Natalya Franz eine Idee hätte. Im Hotel sollen die Matratzen getauscht werden – kann Natalya Franz diese gebrauchen? Franz zögert nicht und organisiert in Gedanken dieses nächste Hilfsangebot, um ihren Landsleuten das Leben im Krieg wenigstens etwas zu erleichtern.