Neheim/Hüsten. Teer in Felsklüften und Chemikalien in Boden bereiten den Projektplanern der Rathaussanierung in Arnsberg Kopfschmerzen. Zeitzeugen erinnern sich

In seiner Wohnung am Herdringer Weg ist Heinrich Tillmann ein aufmerksamer Zeitungsleser. Für den nicht mehr ganz so mobilen 89-Jährigen ist es das Fenster nach draußen. Mit Interesse verfolgt er die Berichterstattung über die Altlasten am Rathaus in Arnsberg, die während der Sanierung immer wieder Probleme bereiteten. Der heutige Rathausplatz ist nicht weit von seinem Haus entfernt und für ihn ein Ort der Erinnerungen an die Zeit davor. „Da haben wir als Kinder und Jugendliche immer wieder auch gespielt“, erzählt er. Er ist ein Zeitzeuge der Industriegeschichte dieses Platzes.

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Erzählte Geschichte

Er sieht noch heute, wie in den frühen 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die aufgeheizten Kesselwagen mit flüssigem Teer auf den Schienen der Ruhr-Lippe-Eisenbahn (RLG) über die Ruhrbrücke fuhren und dann in Richtung des heutigen Rathauses abbogen. Ihr Ziel sei eine große Straßenbaufirma gewesen. „Die haben den Teer dort abgezapft und in 200-Liter-Fässer gefüllt“, erzählt Heinrich Tillmann. Aus den Fässern heraus sei der wichtige Rohstoff dann damals weiterverladen und verarbeitet worden.

„Alte Chemie“ am Ort des heutigen Rathaus
„Alte Chemie“ am Ort des heutigen Rathaus © WP | Archiv Peter Pawlowski

Als Kinder hätten sie den damals dafür zuständigen „schwarzen Mann“ oft geärgert. „Der hat uns dann immer was hinterhergeworfen“, so Tillmann. Und das ließen diese nicht auf sich sitzen. „Irgendwann in der Nacht haben die großen Jungs mal den Hahn vom Kesselwagen aufgedreht. Der Teer ist dann rausgelaufen“, erzählt der Hüstener. Wer das damals gewesen war, wisse er nicht mehr. Diese Geschichte aber fällt ihm immer ein, wenn er heute von den Altlasten liest.

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Soweit die erzählte Geschichte. Klar ist, dass die Altlasten in ihrer großen Dimension wohl andere Verursacher gehabt haben dürften: Dort, wo heute das Rathaus steht, gab es eine lange Industriegeschichte mit Materialen und Abfallstoffen, die heute im Gegensatz zu früheren Zeiten allesamt mit höchster Vorsicht behandelt werden. In der Facebook-Gruppe „Historisches Neheim&Hüsten“ bestätigen viele Gruppenmitglieder, dass an dem Standort einst die Straßenbaufirma Braun ansässig gewesen war, die später nach Hüsten in den Bereich des Haverkampes (naähe heute OBI) gezogen war. Das Straßenbau-Unternehmen war aber nicht die einzige Firma dort.

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Auch Heinrich Tillmann erinnert sich noch an die benachbarte Holzessig-Firma Osterhaus. Der Heimatbund Neheim-Hüsten veröffentlichte auf seinen Kanälen bereits mehrfach alte Bilder der Chemischen Fabrik Rüggeberg, die damals besser unter „Alte Chemie“ bekannt war. Historische Spuren zu dieser führen bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. 1883 berichtete das Central Volksblatt von einem Brand in der Chemiefabrik. Im Bielefelder Generalanzeiger wird 1901 berichtet, dass die „Rüggebergsche Chemische Fabrik“ für 630.000 Mark von der Kasseler Aktiengesellschaft für Trebertrocknung gekauft worden sei. Noch im selben Jahr ging die AG in Konkurs.

Erinnerung an die „Alte Chemie“

Einer, der sich viel mit Heimatgeschichte beschäftigt und auch viele alte Bilder und Daten dazu sammelt, ist Peter Pawlowski. Auch er weiß etwas zum heutigen Rathaus-Standort und seiner Industriegeschichte beizutragen: „Mein Vater sagte damals immer: Da wächst nichts Gesundes mehr“, sagt er. Er erzählt, dass damals in der „Alten Chemie“ durch das Verkohlen von Holz chemische Grundstoffe gewonnen wurden. „Da wären Bodenproben sicher spannend gewesen“, so Pawlowski. Rüggeberg sei der erste im Sauerland gewesen, der versucht habe, Buchenholz chemisch auszunutzen, „indem er daraus einerseits die wertvolle Holzkohle, andererseits die Essigsäure und den Methylalkohol gewann“. Das Rüggebergsche Verfahren sei wichtig für die Hüstener Gewerkschaft gewesen, die die Holzkohle für die Erzeugung ihrer Stahlbleche benötigt habe. Gewonnen wurde aber auch Holzteer.

Alte Industrie am Rathaus: Historische Draufsicht.
Alte Industrie am Rathaus: Historische Draufsicht. © WP | Archiv Peter Pawlowski

Die „Alte Chemie“ sei bei dem Rathausbau in den 60er-Jahren abgerissen worden. Was damals an Bodengutachten versäumt worden war, fällt der Stadt Arnsberg heute bei der Sanierung auf die Füße. Das Stadtarchiv hatte ebenfalls eine industriehistorische Recherche vorgenommen und berichtet auch von der Fabrik zur Herstellung von Holzessig. „Teer, Phenole und Essigsäuren waren damals als Abprodukte im Boden geblieben“, weiß die Stadt.

Die heutigen Kosten

Die Stadt zahlt heute die Rechnung für die Industriegeschichte am Rathaus-Standort: Für den Umgang mit den Teerrückständen in Felsklüften muss Arnsberg für 1,1 Millionen Euro eine Grundwasserfilteranlage bauen, die künftig jährlich 100.000 Euro Betriebskosten erzeugt. Bereits ohne die Teeer-Entsorgung wurden bislang Kosten für die Altlastensanierung in Höhe von 5,2 Millionen Euro angesetzt, die teilweise schon bezahlt worden sind. Im Jahr 2022 hatte es bereits eine Förderung von 1,4 Millionen Euro für die Altlastensanierung aus Mitteln der Städtebauförderung gegeben. Aufgrund der weiteren Funde wurde im Oktober 2023 ein erneuter Förderantrag in Höhe von zwei Millionen Euro gestellt, über den aber noch nicht entschieden worden ist. Rund 2,6 Millionen Euro fielen durch die nötige Baugrubenerweiterung an.

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