Arnsberg. Zwei junge Menschen aus Arnsberg erzählen von den großen Hürden eines Lebens mit Stottersymptomen und wie sie damit umgehen.
Das Handy klingelt. Für Kathrin Pingel bleibt das immer eine Ausnahmesituation. „Das Telefon ist wie ein Brennglas auf unser Problem“, sagt sie. Die 21-jährige Arnsbergerin muss dann auf den Punkt reagieren und weiß doch, dass dies manchmal nicht so einfach ist. Seit sie sechs Jahre alt ist, lebt sie mit einer Stottersymptomatik. Nicht nur das Telefonieren ist da eine Herausforderung.
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Wir treffen uns im R-Café in Neheim. Mit am Tisch sitzt Justus Kerstin. Auch der 21-jährige Neheimer hat eine Biografie als „Stotterkind“ hinter sich. Sein Stottern begann, als er vier Jahre alt war. „Von einem Tag auf den anderen war es da“, erinnert sich Justus, „ich habe so stark gestottert, dass ich irgendwann gar nicht mehr gesprochen habe.“ Davon ist heute nur wenig zu hören. Auch Kathrin redet fließend, wenn sie einmal den Anfang gefunden hat. Der Einstieg in den Satz fällt manchmal schwer, die Anstrengung ist ihr anzusehen. Und doch will sie zusammen mit Justus über das Stottern und das, was das alles für die Betroffenen bedeutet, sprechen. „Viele Leute verstehen das nicht und wissen nicht, was Stottern ist“, sagt sie, „es ist ein Krankheitsbild, eine Sprachstörung.“
In der Kindheit kann das zum Martyrium werden. „Ich wurde geärgert, war Außenseiter und hatte keine Freunde“, sagt Kathrin. Und auch heute bei Gruppenarbeiten in der Berufsschule erlebt sie noch manchmal eine Form von Ausgrenzung. In der Pubertät sorgte das für Selbstzweifel. Sie fragte sich, wieso sie „nicht normal“ sei, wo sie doch einfach nur wie alle dazugehören wollte. Heute geht sie selbstbewusster mit dem Stottern um. „Ich habe akzeptiert, dass es ein Teil von mir ist“, sagt sie, „und ich kann stolz darauf sein, wie ich jetzt meinen Weg gehe.“
Kontakt zu anderen Betroffenen suchen
Justus Kerstin und Kathrin Pingel geben Menschen, die Stottersymptomen aufweisen, aus eigener Erfahrung einige Ratschläge.
– Justus Kerstin empfiehlt einen aktiven Umgang mit dem eigenen Stottern. Dazu gehört der Besuch von Logopädie und Therapien. „Hier lernt man Techniken und hat einen Werkzeugkoffer zum Umfang mit dem Stottern zur Hand“
– Professionelle Hilfe stärkt den Stotternden. „Bei einer professionellen Hilfe fühlt man sich verstanden“, sagt Kathrin Pingel.
– Stotternde sollten auch das Positive an ihrer Situation suchen. „Es hat doch nicht nur negative Aspekte“, sagt Justus Kerstin, „das Stottern hat mich zu einem empathischen Menschen gemacht“.
– Unbedingt empfehlenswert ist der Austausch und Kontakt zu anderen Stotternden. Justus Kerstin hat das Stotter-Intensiv-Camp in Hannover mit anderen jungen Menschen sehr viel gebracht. „Da fühlt man sich dann nicht mehr allein“, sagt er.
Inzwischen ist sie, die als Nesthäkchen mit 15 und 18 Jahre älteren Geschwistern groß geworden ist, im dritten Ausbildungsjahr zur Erzieherin und arbeitet in der Kinder- und Jugendhilfe Langscheid. Bis es so weit kam, musste sie auch leidvolle Erfahrungen in Bewerbungsgesprächen machen, obwohl sie stets auf ihr Stottern hingewiesen hatte. Im Beruf kommt sie klar und kann mit ihrem Handicap umgehen. „Mit vertrauten Personen klappt es eh ganz gut“, erzählt sie. Drucksituationen aber belasten und wirken sich aufs Sprechen aus. „Ein Eins-zu-eins-Gespräch mit der Chefin ist eine Herausforderung. Da geht es ja um etwas und ich muss abliefern“, sagt Kathrin Pingel.
Vorbild für andere
Der Neheimer Justus Kerstin macht aus „seinem Problem“ einen Beruf. Früh kam er - er hat vier Halbgeschwister im Alter von 3 bis 16 Jahren - in logopädische Behandlung. Er griff oft zu Vermeidungsstrategien, richtig dem Problem aber stellte er sich erst nach der Realschule, als er 2017 das Stotter-Intensivcamp in Hannover besuchte. In nur zehn Tagen lernte er Techniken und Wege zum Kontrollieren der eigenen Sprache. Heute absolviert er in Münster ein Studium zum Logopäden und arbeitet nebenbei auch in dem Stotterer-Camp. Dort ist er für viele stotternde junge Menschen ein echter Mutmacher.
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Justus redet ruhig und besonnen - und störungsfrei. „Die Symptomatik habe ich in den Griff bekommen“, erzählt er. Es bleibt aber die Angst. „Die ist wie ein Schatten da“, so Justus. Er hat viel mehr mit Sekundärsymptomatiken zu kämpfen. So kann er in den Gesprächssituationen zwar „normal“ reden, doch sieht niemand, was in ihm vorgehen kann. Vor allem, wenn das Sprechen mit einer Art Leistungsdruck verbunden ist, verspürt er Herzrasen und Angstzustände. „Die Angst vor dem Stottern und den Konsequenzen ist tief verankert“, gibt er zu.
„Ich will das aushalten“
Das Stottern wird immer erst in Interaktivität mit anderen Menschen zum Problem. „Ich wünschte mir mehr Verständnis“, sagt Justus Kerstin, „die Leute sollten Stottern nicht beachten, sondern einfach hinnehmen.“ Kathrin Pingel hat da eine gute Absprache mit ihren Freunden getroffen, wenn sie beispielsweise beim Bestellen im Restaurant verbal stolpert. Sie weiß, dass es von dem Gegenüber oft gut gemeint ist, wenn es das für sie gerade unaussprechliche Wort sagt. „Ich will das aber aushalten und nicht, dass man mir dann hilft“, sagt die Arnsbergerin, „wenn es aber gar nicht geht, gebe ich meinen Freunden ein Zeichen.“
Ein allgemeingültiges Rezept für den eigenen Umgang mit dem Stottern gibt es nicht. „Es gibt nicht das Stottern“, weiß Justus Kerstin, „es ist so individuell wie die Menschen.“ Er atmet in kritischen Situationen tief in den Bauch und sucht seinen Sprechrhythmus, vermeidet hartes Sprechen. Kathrin Pingel wählt einen ähnlichen Weg. „Ich fahre runter und bleibe bei mir“, sagt sie. Sie geht inzwischen ganz offensiv mit dem Stottern um. „Auch wenn digitale Kommunikation oft einfacher ist: Irgendwann muss man sich stellen“, sagt sie, „das Stottern ist mein Schicksal, meine Gabe und eine Aufgabe, mit der ich umgehen muss.“ Sie weiß, dass auch sie viel zu sagen hat und versucht, ihr Stottern zu akzeptieren. „Es ist mein Extrabegleiter durchs Leben“, sagt sie.