Lore Neuwöhner war vier Jahre alt, als die Flutwelle aufgrund der Möhnekatastrophe Neheim erreicht. Das sind ihre Erinnerungen.

„Den Knall höre ich heute noch“, sagt Lore Neuwöhner. Sie ist gerade einmal vier Jahre alt, als die Bomben das Mauerwerk der Möhnetalsperre zerstören und eine riesige Flutwelle bis in das Ruhrgebiet schießt. Der Knall des Bombeneinschlags – über 13 Kilometer weit weg – ist bis hierher zu hören.

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Die heute 84-Jährige erinnert sich an viele Momente im schützenden Keller ihres Elternhauses auf der Schobbostraße in Neheim (heute: gegenüber des Tri-Hauses) – doch diesmal soll dieser Schutzraum zu einem der gefährlichsten Orte werden. „Ich erinnere mich daran, dass unser Nachbar in den Keller gerannt kam und sagte, dass wir alle schnell raus müssen“, sagt Lore Neuwöhner, „Er sagte: Das Wasser kommt, das Wasser kommt.“ Kurzerhand laufen die vierjährige Lore, ihre Mutter und ihre einjährige Schwester nach draußen. Ihr Vater kann nicht helfen – er ist im Krieg. „Mehr als einen Meter stand das Wasser da schon hoch“, erinnert sie sich. Im nächsten Moment sieht sie Kühe, die plötzlich vor dem Haus die Straße entlang schwimmen. „Im Haus neben dem Unseren war ein Bauernhof – als das Wasser kam, befreite der Bauer seine Kühe.“

Lore Neuwöhner und ihre Familie laufen die Schobbostraße hinauf – bis zum Haus ihrer Großeltern. Dort scheinen sie in Sicherheit zu sein. Denn das Wasser schafft es glücklicherweise nur bis etwa zum Eckhaus an der Schobbostraße 19. „Nach unten hin – in Richtung Ohl – versank alles“, schildert die Zeitzeugin. Und auch, wenn sie erst vier Jahre alt ist, so sind ihr viele Erinnerungen an dieses einschneidende Erlebnis geblieben. „Meine Schwester war erst ein Jahr alt“, sagt sie, „Sie hat das alles natürlich nicht wahrgenommen.“

Wasser und Nebel ziehen durch Neheim

Nebel zieht sich über das Wasser. So doll, dass ihr Vater in Gefangenschaft auf Kreta später in den Auslandsnachrichten zu hören bekommen soll, dass sich das Wasser bis zur Spitze des Neheimer Doms zieht. „Man konnte ja nichts mehr sehen.“ Angst habe die vierjährige Lore jedoch nicht gehabt – es sei schließlich Normalität gewesen. Nur die Flieger, die über ihren Köpfen ihre Runden drehen, beängstigen ein wenig.

Denn jetzt stehen die Familie und die Nachbarn nicht mehr unter dem Schutz des Kellers. „Wir kannten es nicht anders.“ Nächtelang im Keller, ein abendliches vorsichtiges Leben in Dunkelheit – all dies sei Normalität gewesen. „Wir durften das Licht nicht anmachen, um nicht Ziel eines Bombenangriffs zu werden“, sagt sie, „Nur im Keller durfte das Licht brennen.“

Auch die Sirenen gehen ihr nicht aus dem Kopf – insbesondere diejenigen, die in der Nacht des Bombenangriffs auf die Möhnetalsperre heulen. „Sirenen waren früher nichts Besonderes – wir hörten sie dauernd und gingen dann in den Keller. Wenn dann entwarnt wurde, warteten wir trotzdem noch eine gewisse Zeit lang, bis wir wieder hoch gingen.“

Dankbar für Kleinigkeiten

Lore Neuwöhner lebt unter dem Dach. „Die beiden runden Fenster – da haben wir gewohnt“, sagt sie und zeigt auf das Altbaugebäude hinter sich. An diesem Abend gibt es keine entwarnenden Sirenen. Acht Tage und Nächste leben sie bei ihren Großeltern im Haus. Ihr Elternhaus – leer. Denn auch alle anderen Familien konnten vorerst nicht zurückkehren. Nur eine Haushälterin, die offenbar in der Nacht tief und fest geschlafen habe, habe nichts von alledem mitbekommen. „Sie blieb im Haus – allein“, sagt Lore Neuwöhner. Einige Zeit später habe es erneut einen Bombenangriff gegeben, am Sorpedamm. Doch dieser habe das Wasser gehalten.

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Auch die letzten drei Tage des Krieges werde sie nicht vergessen. Drei Tage und drei Nächste lang im Keller – wieder einmal. „Bis dann die Amis kamen“, sagt sie, „Da hatten wir schon Angst.“ Man habe ja nicht gewusst, was passiere.

Bis heute seien Lore Neuwöhner und ihre Schwester dankbar für all das, was sie in ihrem Leben hätten. Für jeden Moment, für all das Hab und Gut. Auch für Kleinigkeiten bedankten sie sich bei Gott.