Oeventrop. Prorussische Eltern und ein Herz für die Menschlichkeit - wie Matei Tzvetanov aus Oeventrop mit diesem Zwiespalt umgeht. Das sagt er.
„Ich würde stumpf auflegen“, sagt Matei Tzvetanov, „sollten meine Eltern wieder mit dem Thema beginnen.“ Ein halbes Jahr lang herrschte absolute Funkstille, nachdem seine Mutter einen Satz begonnen habe, der vermutlich den Angriffskrieg der Russen in der Ukraine zu rechtfertigen versuchen sollte.
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Denn während seine Eltern russischen Medien zu glauben scheinen und dem 34-Jährigen selbst vorwerfen, nicht die nötige Vielfalt an den Tag zu legen, spricht er sich klar und deutlich für die Menschlichkeit aus und versucht, auch seine Eltern davon zu überzeugen, dass die Geschichten der Menschen zählen – und nicht die der Medien. Schließlich seien sie es, die live und mittendrin steckten – die die Folgen des Krieges am eigenen Leib erlebten.
Aber seine Eltern halten ebensolche Zeitzeugenberichte für Fakeberichte, die die Menschen erzählen müssten. Er selbst sieht das nicht so – niemand könne sich solche Geschichten ausdenken. „Aber selbst wenn sich hinterher herausstellen würde, dass alle gelogen haben und Russland ,im Recht’ war“, sagt er weiter, „dort sterben Menschen – auf der Flucht erschossen oder überfahren. Das ist schrecklich.“ Es ist spürbar, wie wütend ihn dies macht.
Umso mehr, als er über die Einstellung seiner Eltern spricht. Politisch hält Matei Tzvetanov sich heraus – was jedoch die Menschlichkeit betrifft, so vertritt er klar und deutlich seine Meinung: Menschlichkeit kennt keine Grenzen. „Grenzen sind etwas, das Menschen erfunden haben“, meint er, „Grenzen sind nur imaginäre Linien.“
Es sind die Geschichten, die ihm in seiner Eigenschaft als Dolmetscher und „helfende Kraft“ innerhalb der Unterstützung ukrainischer Geflüchteter begegnen, die ihn schockieren. Geschichten, die eben keine sind, weil sie der absoluten Realität entspringen. Aber auch Geschichten, die ihm selbst die Augen öffnen. Und letztendlich auch Geschichten, die seine Eltern ihm nicht glauben wollen – die sie als „Fakenachrichten aus dem Westen“ abtun.
Mit Zehn die Heimat verlassen
Matei Tzvetanov selbst lebt seit 14 Jahren in Deutschland, kam aus Australien hierher und wurde in Bulgarien geboren. Sein Vater sei aus Bulgarien, seine Mutter aus Russland – kurz gesagt. Die ersten zehn Jahre seines Lebens wuchs er damit in Bulgarien auf. „Doch irgendwann wollten unsere Eltern etwas Besseres für uns“, sagt er.
1999 klappte dann, beim zweiten Anlauf, die Auswanderung nach Australien. Matei Tzvetanov wird Leistungssportler. Leichtathlet, Stabhochspringer, und hielt sogar einige Zeit den U16-Weltrekord. Als sein Trainer ihn nicht mehr gebührend fördern kann, sucht er einen Ansprechpartner in Deutschland - und findet ihn. Nach kurzer Überlegung schnappt sich Matei Tzvetanov seinen Rucksack und reist von Australien nach Deutschland. 2009.
Er ist gerade einmal 20 Jahre alt. Knapp ein Jahr später lernt er Deborah, seine heutige Ehefrau und Mutter seiner beiden Kinder, kennen. Sie ist es auch, die ihn aufgrund des Vorfalls aus 2007, als seine Sportkarriere durch einen misslichen Unfall beim Stabhochsprung endet, auffängt und ihm Kraft gibt. Er bleibt in Deutschland.
„Ich fühle mich kulturell viel verbundener mit Deutschland als mit Australien“, sagt er und lacht. „Mir gefällt es hier sehr gut – ich möchte gar nicht mehr weg.“ Und der Sport? Den kann er nicht mehr ausführen – sei aber eh nur das gewesen, was seine Eltern damals von ihm gewollt hätten. „Ich wollte immer etwas Kreatives, Künstlerisches machen.“
Da er sein Studium, das er in Australien begonnen hatte, in Deutschland nicht fortführen konnte, studiert er Animation/3D-Kunst und erhält seinen Bachelor in Interaktiver Animation. Außerdem lässt er sich gerade zum Tätowierer ausbilden.
Jahrelang kein Russisch gesprochen
Er spricht vier Sprachen: Bulgarisch, Russisch, Englisch und Deutsch. Anfangs habe er sich gar nicht wirklich getraut, Übersetzungen zu tätigen. „Ich habe jahrelang kein Russisch gesprochen“, sagt er, „da fühlte ich mich mit meiner gebrochenen Sprache nicht wohl.“ Und dennoch: Innerhalb weniger Minuten sind all die Bedenken weg.
Die Menschen, die damals mit Bussen nach Arnsberg zum Marienkrankenhaus kamen, zeigten ihm, wie trotz des Krieges ein gewisser Zusammenhalt funktioniert. Die Jüngeren kamen direkt auf ihn zu und fragten, wie sie helfen könnten, ihnen zu helfen – und so sei etwas entstanden, eine Gegenseitigkeit, die kaum durch etwas übertroffen werden könne.
„Ich war überwältigt zu sehen, wie diese Menschen zusammengehalten und sich gegenseitig unterstützt haben.“ Natürlich habe es aus der Richtung der Ukrainerinnen und Ukrainer auch mal Versuche gegeben, gegen Russland zu pushen. Aber da lasse sich Matei Tzvetanov auf keine Diskurse ein. „Ich lasse die Menschen reden und denke mir einen Teil“, sagt er, „sie sollen ihrer Wut ruhig mal Luft machen.“ Letztendlich gehöre auch das zur Verarbeitung des Erlebten.
Denn die meisten Menschen, die nach Deutschland kämen, seien ja auch vom Krieg traumatisiert – oder stünden noch unter Schock. „Das ist ja auch der Grund, warum sie ihre Geschichten dann so trocken erzählen. Es dauert, bis sie dann alles realisieren und plötzlich zusammenbrechen.“
Vorsichtiger Kontakt mit seinen Eltern
Mit seinen Eltern pflegt Matei Tzvetanov mittlerweile wieder einen „vorsichtigen Kontakt“. Sie leben immer noch in Australien – und glauben nach wie vor den vermeintlich einzig und allein wahren russischen Medien. Dass sie gegebenenfalls Fakenews oder einer gewissen Propaganda auf den Leim zu gehen scheinen, wollen sie nicht wahrhaben.
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„Aber es ist ja trotzdem meine Mutter“, sagt er, „und solange nicht über das Thema Russland-Ukraine gesprochen wird, ist alles gut dann.“ Sobald er jedoch verspüre, dass es wieder mit dem Kriegsthema losginge, würde er stumpf auflegen. Direkt. Ohne zu zögern.
„Ich muss mich und meine Familie auch irgendwie davor schützen“, meint er. Ob sich dieser Zwiespalt irgendwann legen wird? Der Zwiespalt zwischen der kriegerischen Meinung der Eltern und seiner eigenen Meinung der Menschlichkeit? Das bleibt zu hoffen. Abwarten.