Hüsten. Marco Rafolt aus Hüsten führt Bildungsfahrten nach Auschwitz durch. Was in den fünf Tagen passiert und wieso es auch ihn immer wieder berührt.

Er spricht mit klarer, gefasster Stimme. Erzählt von der Art und Weise, wie die Nationalsozialisten für die großangelegte Vernichtung jüdischer Menschen „übten“. Wie sie an Menschen mit Behinderung und damit „nicht lebenswerten“ Menschen testeten, wie schnell, kostengünstig und in Massen getötet werden kann. Marco Rafolt schafft es, Bilder im Kopf zu erzeugen. Er erwähnt Namen, die man auch aus dem Geschichtsunterricht in der Schule nicht kennt. Geschichten, die man nie gehört hat. Stundenlang könnte man ihm zuhören.

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Marco Rafolt (39), Gewerkschaftssekretär bei der EVG und ehrenamtlicher Referent für Touren in Ausschwitz. Durch seine Touren möchte er den Menschen die Geschichte näher bringen.
Marco Rafolt (39), Gewerkschaftssekretär bei der EVG und ehrenamtlicher Referent für Touren in Ausschwitz. Durch seine Touren möchte er den Menschen die Geschichte näher bringen. © Privat

Jede und jeder weiß etwas mit dem Begriff „Auschwitz“ anzufangen. Jede und jeder weiß, das in dem riesigen Lagerkomplex aus Gefangenenlagern in Oświęcim, Polen, während der Zeit des Nationalsozialismus auf einer Fläche von knapp weniger als zwei Quadratkilometern mehr als eine Million jüdische Mitmenschen kaltblütig ermordet wurden. Das war vor 80 Jahren. Doch Marco Rafolt (41) schafft es, die Zeit ins Jetzt zu holen - zumindest gedanklich.

Er organisiert und begleitet Reisen in das damalige KZ Auschwitz-Birkenau für Menschen, die mehr über die „dunkle Zeit“ erfahren möchten. Und das bereits seit 20 Jahren. „Mit jeder Reise habe ich auch selbst etwas dazugelernt“, sagt Marco Rafolt, „das tue ich auch heute noch.“

Alles begann mit klatschenden Menschen

Damals sei er mit seiner Schulklasse im Kino gewesen. Habe Schindlers Liste gesehen. „Es gibt diese Szene, in der ein einarmiger Mann beim Schnee schüppen erschossen wird, weil er für die Wächter nicht mehr als arbeitstauglich galt“, sagt Marco Rafolt, „und damals ist in den hinteren Reihen des Kinos applaudiert worden.“ Er habe es absolut nicht verstanden, warum Menschen applaudieren, wenn ein unschuldiger Mensch erschossen wird. Der Begriff „Auschwitz“ sei für ihn immer ein schweres Wort gewesen. Daher wollte er unbedingt mal dahin - selbst sehen. Sein Vater ermöglichte ihm diese Reise. „Für mich war dann relativ schnell klar, dass ich auch mit Gruppen dahin gehen möchte.“

Die spannende Frage sei ja: Welchen Beitrag kannst du aktiv dazu leisten, dass das nicht wieder passiert? Marco Rafolt entschied sich dazu, sich intensiv mit dem Thema zu befassen - den Nationalsozialismus quasi autodidaktisch zu studieren, um letztendlich mit Jugendlichen zwecks Information und Aufklärung nach Auschwitz zu reisen. „Mir war es immer wichtig, die Jugend irgendwo abzuholen“, sagt er, „mittlerweile biete ich diese Seminare für Erwachsene an.“

Als Referatsleiter für Vielfalt und Queer aktiv

„Heute haben wir, glaube ich, eins der besten pädagogischen Konzepte“, erklärt er weiter, „inhaltlich und auch vermittlungstechnisch.“ Er und sein Kollege, der die Seminare gemeinsam mit ihm durchführt. Lange Zeit war er als Referent für kleinere Organisationen tätig, oder auch Schulen und kleine Gruppen. Eine Zeit lang habe er auch Bildungsreisen für den Deutschen Gewerkschaftsbund NRW gearbeitet. „Mittlerweile mache ich das für die EVG, also die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft.“

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Dies passe auch sehr gut zu seiner neuen Funktion als Referatsleiter für Vielfalt und Queer, da die Antirassismusarbeit dazugehöre. „Jetzt gehört es zu meinem Job. Ich kann diese Gedenkfahrten hauptberuflich machen. Das war auch bewusst so gewählt, so dass ich in diesem Jahr alleine sieben Fahrten mache. Im nächsten Jahr sind es auch schon vier.“, sagt er. 2022 sei er fünf Mal mit Gruppen in Auschwitz gewesen.

Offene Geheimnisse, die jedoch nur wenige wissen

Das Bildungsseminar verläuft über fünf Tage. „Die ersten drei Tage beschäftigen wir uns eigentlich gar nicht mit Auschwitz“, sagt Marco Rafolt, „sondern mit der Vorgeschichte. Also wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass wir heute Auschwitz als das kennen, was es war - nämlich ein Vernichtungslager.“

Das Seminar beginnt mit dem „Vorabend des Nationalsozialismus“. Sprich in den 1920er Jahren, hinweg über die Machterschleichung durch Adolf Hitler. „Mit der Machterschleichung durch Hitler gab es ja schon die ersten Eskalationen - politische Gegner, die inhaftiert und ermordet wurden.“, so Marco Rafolt.

Es ginge in der Theorie auch um weitere deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager wie Chelmno, Stutthof oder Treblinka. „Es wissen zum Beispiel die wenigsten, dass in Chelmno getestet wurde, wie man Menschen auf schnelle Art und Weise umbringen kann“, sagt er, „dort gab es die ersten ´Vernichtungsbusse`, in denen die Menschen mit den eigenen Abgasen des Busses getötet wurden.“ All diese Geschichten sind Teil seiner Seminare.

Erst am vierten und fünften Tag wird die Gruppe dann in das KZ Auschwitz-Birkenau begleitet, um an einer offiziellen Rundführung teilzunehmen.

Teilnehmer werden mitunter von ihren Gefühlen übermannt

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien bis zum praktischen Teil des Seminars eigentlich relativ gefasst. Doch spätestens im Konzentrationslager überkämen sie oftmals die Gefühle. „Es gab beispielsweise mal eine Teilnehmerin, die bereits an einem Waggon nicht mehr konnte“, erzählt Marco Rafolt, „die dann auch abbrach.“ Der Bereich der Ankunft, wo letztendlich entschieden worden sei, wer im Lager leben und wer direkt getötet werden sollte.

Auschwitz kennt Marco Rafolt fast wie seine Westentasche. Bereits 20 Mal besuchte er das ehemalige KZ und heutige Denkmal in Polen.
Auschwitz kennt Marco Rafolt fast wie seine Westentasche. Bereits 20 Mal besuchte er das ehemalige KZ und heutige Denkmal in Polen. © WP | Marco Rafolt

Regelmäßig fänden Nachbesprechungen des Gesehenen statt - so auch in diesem Fall. „Sie hat dann nach einer Weile gesagt, warum sie abbrach. Ihr war es unangenehm, weil sie sich schlecht fühlte. Sie habe sich an dem Waggon gefragt: Was würde ich wählen, wenn ich denn könnte? Den Tod oder das Leben in dem Lager?“ Dies habe auch ihn selbst zum Nachdenken gebracht, wie so vieles.

Denn auch Marco Rafolt, auch nach langjähriger Erfahrung, kann nicht „die Schiene entlang gehen“, ohne sich Gedanken zu machen. Ohne immer wieder über irgendein Detail nachzudenken. Ohne auch nur ansatzweise emotional zu werden. Doch genau das, so sagt er, müsse auch sein. „Wenn mich Auschwitz nicht mehr touched, höre ich auf!“

Marco Rafolt spricht mit klarer, gefasster Stimme. Nur dieser Satz bringt seine Stimme zum Zittern und seine Hände zum wilden Spiel mit dem Gummiband am Kugelschreiber. Es ist ihm anzusehen, dass ihm die Geschichten, die erzählt - mit all den Details - auch selbst sehr nah gehen.

Überlegung wert: Bildungsreisen via VHS

Das beste Feedback habe er einmal von einem 70-jährigen Mann erhalten. Dieser habe ihm gedankt, dass er trotz seines hohen Alters noch so viel über die grauenvolle Zeit gelernt hätte.

Aktuell könnten sich für das Seminar „nur“ Gewerkschaftsmitglieder anmelden, bedauert Marco Rafolt. Doch es sei auf jeden Fall eine Überlegung wert, solche Seminare auch gegebenenfalls über die VHS anzubieten.