Oeventrop. Bernd Siedhoff aus Oeventrop wird sterben. Bis dahin wünscht er sich mehr Teilhabe am sozialen Leben. Die Krankenkasse lähmt dies.

Seine Hand zittert, als er sie anhebt. Er starrt sie an, konzen­triert sich. Will zeigen, was er kann – und was eben nicht. Denn seine Muskulatur tut schon lange nicht mehr das, was er möchte. Den Steuerhebel seines Rollstuhls kann er so gerade eben „halten“. Vielleicht dient ihm aber auch nur das Krampfen seiner Finger in diesem Moment. Für die Knöpfe des Dashboards reicht die Kraft jedoch nicht mehr aus.

Bernd Siedhoff leidet an ALS, Amyotropher Lateralsklerose. Die Krankheit raubt dem 55-Jährigen die Kontrolle über seinen Körper. Sie bereitet ihm Schmerzen. Schlaflose Nächte am Beatmungsgerät. Und sie lässt ihn sterben. Langsam und qualvoll. Das ist gewiss. Nicht klar ist jedoch, wann er stirbt – und wie viel Lebensqualität ihm bis dahin bleibt.

Täglich grüßt das Murmeltier

„Och ja, ich vegetiere so vor mich hin“, antwortet Bernd, wenn man ihn fragt, wie es ihm geht. Er lallt, spricht sehr langsam. So, als hätte er einen über den Durst getrunken. Hat er aber nicht. Sein Hals spannt. Er konzentriert sich auf jedes Wort. Denn die Krankheit lähmt bereits die Zungen-, Schlund- und Gaumenmuskulatur. Wortfindungsstörungen hat er nicht, es hapert nur an der motorischen Aussprache. „Mein Kopf funktioniert“, sagt er, „ich bin ja nicht bekloppt. Nur mein Körper will nicht.“ Hilflos ist er – und das rund um die Uhr. Denn nichts geht mehr allein.

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Ob es das Essen oder Trinken ist, das Erleichtern auf dem WC oder auch das simple Zappen durchs Internet – Bernd braucht immer jemanden, der ihm hilft. Seine Frau. Karin. Karin ist 24/7 auf Bernd eingestellt. Reicht ihm das Essen. Das Handy. Alles, was er möchte. Sie tut dies gern; auch wenn sie in dem ein oder anderen Moment lieber mal sitzen bleiben würde. „Aber wer soll’s sonst machen?“, fragt sie. Sie leidet mit. Denn nach einer Schulterverletzung und psychischer Erschöpfung ist sie schon lange krankgeschrieben. Finanziell ein Desaster.

Menschlich ebenso. Etwa für 20 Minuten täglich erhält Bernd Unterstützung von einem mobilen Pflegedienst. „In der Zeit kann ich beruhigt an meinem Kaffee nippen“, sagt Karin, „denn dann weiß ich, dass Bernd oben gut versorgt ist.“ Bernd jedoch muss sich Tag für Tag überwinden. Muss sich Fremden gegenüber öffnen. Sie in seine Privatsphäre lassen. „Die Hemmungen sind groß“, sagt er. Ansonsten stehen vormittags Physiotherapie und viele Anwendungen auf dem Programm. Alles, damit Bernd nicht völlig einrostet.

Unerträgliche Schmerzen des Nachts

Am Nach­mittag fährt er gerne mit seinem Rollstuhl in den Wald. „Ich kann dort gut abschalten, etwas entspannen“, sagt er, „alleine geht das nicht, meine Frau muss mit.“ Meistens ist er deshalb nicht an der frischen Luft, sondern zu Hause vorm Fernseher. Selbst umschalten kann er nicht. Auch Ausflüge sind nicht möglich. Denn Karins und Bernds Auto ist nicht rollstuhlgerecht. „Ich wünsche mir so sehr ein behindertengerechtes Auto“, sagt Bernd, „damit ich endlich mal wieder etwas anderes sehen und hören kann.“ Doch so ein Auto kostet viel Geld. Geld, das sie nicht haben. „Für den Treppenlift haben wir Geld von der Familie bekommen“, sagt Karin, „weil die Krankenkasse nur einen bestimmten Teil dazugibt.“

Was ist ALS?

Die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, ist eine neurodegenerative Erkrankung. Die Folge sind fortschreitende Muskellähmungen. Betroffene können auf einen Rollstuhl angewiesen sein, haben später Probleme zu sprechen und zu schlucken. Im finalen Stadium kommt es auch zu Lähmungen der Atemmuskulatur.

Während Karin und Bernd über seinen Alltag sprechen, zuckt sein Oberarmmuskel. Bernd bemerkt dies erst, als Karin ihre Hand darauf legt. „Die Zuckungen merke ich nicht immer, schlimm sind die nächtlichen Krämpfe“, sagt Bernd, „das sind Schmerzen, unerträglich.“ Karins Augen füllen sich mit Tränen – sie versucht es zu verstecken. Klappt nicht. Für sie ist es unerträglich, ihren geliebten Mann so zu sehen. Und sie hat Angst, Angst, dass er sich verschluckt und sie nicht helfen kann. Angst vor seinem unvermeidlichen Tod.

Kampf um jede Unterstützung

Bernd hat keine Angst (mehr). Manchmal wünscht er sich den Tod sogar. Denn er kämpft nicht nur gegen seine Krankheit, sondern auch für ein wenig Unterstützung durch seine Krankenversicherung.

Aktuell laufen laut Bernd und seiner Frau Karin verschiedene Anträge – einmal auf Genehmigung eines neuen Rollstuhls, bestenfalls mit einer Kopfsteuerung für elektrische Rollstühle, und auf eine sogenannte „Persönliche Assistenz“ für 24/7. Beides wurde von der IKK abgelehnt – lediglich in der Nacht ist jemand da, der auf Bernds Vitalfunktionen achtet. Die „persönliche Assistenz“ 24/7 jedoch würde nicht nur Bernd unterstützen, sondern auch seine Frau Karin entlasten.

Die IKK meint jedoch, dass dies nur ein Intensivpflegedienst leisten könne. Bisher leistet Karin das allein. Eine Assistenz schmeißt den Haushalt, kocht, geht mit Bernd spazieren, fährt ihn zum Arzt und mäht auf Wunsch sogar den Rasen. Ein Pflegedienst pflegt. Mehr nicht.

„Sozialmedizinisch nicht zwingend erforderlich“

Der kopfgesteuerte, elektrische Rollstuhl, der Bernd eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben ermöglichen würde, wurde von der IKK abgelehnt, weil dieser für „sozialmedizinisch nicht zwingend erforderlich“ gehalten werde.

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Die IKK konnte sich unter Berufung auf die gesetzliche Schweigepflicht aktuell nicht zu diesem speziellen Fall äußern, erklärte jedoch in einer ausführlichen Mail, was „nicht zwingend erforderlich“ auf Grundlage der Gesetze bedeutet. Für Bernd jedoch bedeutet dies schlicht: Keine Lebensqualität. Er vermutet, dass sich das eingeleitete Widerspruchsverfahren lange hinziehen wird. „Bis dahin bin ich wahrscheinlich tot“, sagt er.