Neheim. Wie für eine aus dem Kriegsland Ukraine nach Arnsberg-Neheim geflohene Familie plötzlich „normale“ Asylregelungen gelten.
„Kann morgen nicht in die Schule kommen. Ich muss mit meinem Zeugnis zur Bezirksregierung“, eine Kurznachricht, der Susanne Stegmann, Lehrerin an der Agnes-Wenke-Sekundarschule (AWS), erstmal keine Bedeutung beimisst. Es ist normal, dass die geflohenen Schülerinnen und Schüler ihre bisherige Schullaufbahn im jeweiligen Herkunftsland nachweisen müssen.
Nikita und seine Schwester Daria, seit dem 5. März in Arnsberg, kommen also am ersten Tag nach den Sommerferien nicht zur Schule. Doch auch am zweiten Tag nicht. Dafür steht ihr Großvater plötzlich im Türrahmen. Völlig aufgelöst, wie Susanne Stegmann es beschreibt. Traurig und fassungslos erklärt er, dass seine Enkelkinder und ihre Mutter nun in Bielefeld sind. In der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Das, obwohl die Familie bereits seit Monaten bei ihm in Arnsberg lebt.
Familie nach Bielefeld geschickt
Die beiden Kinder lernen seit dem 24. Mai 2022 in der AWS. „Nikita lernt schnell, ist sehr fleißig und wissbegierig“, so Susanne Stegmann. Der 16-Jährige und seine zwei Jahre jüngere Schwester besuchen offiziell noch immer die neunte Klasse. Doch die dreiköpfige Familie wartet nun in der Bielefelder Unterkunft. Wartet auf eine kommunale Zuweisung im regulären Verteilungsverfahren.
Für ukrainische Staatsbürger ist es in der Regel einfach. Statt ein Asylverfahren zu durchlaufen, beantragen sie nach § 24 Aufenthaltsgesetz in einem vereinfachten Verfahren bei der Ausländerbehörde einen Aufenthaltstitel auf Zeit. Drittstaatler, so werden die Personen bezeichnet, die keine ukrainischen Staatsbürger sind, werden jedoch an die Erstaufnahmeeinrichtungen verwiesen, um dort auf Wunsch einen Asylantrag zu stellen und auf die kommunale Zuweisung zu warten.
So die gesetzliche Vorgabe. Und genau dies scheint bei Nikita und Daria der Fall zu sein - denn sie sind keine ukrainischen Staatsbürger, sondern ursprünglich aus der Kirgisischen Republik.
Auf Staatsbürgerschaft nicht geachtet
In der AWS fiel dies nicht ins Gewicht. „Sie wurden vom Kommunalen Integrationszentrum als ukrainische Geflüchtete an uns vermittelt und sprachen Russisch”, so Susanne Stegmann. „Auf die Staatsbürgerschaft auf dem Papier haben wir nicht geachtet. Wir sind nicht davon ausgegangen, dass sie wieder gehen müssen”.
Denn nicht alle Asylanträge werden innerhalb kurzer Zeit entschieden - oftmals auch nicht während des Aufenthalts in einer Massenunterkunft. Familien werden, so regulär geplant, innerhalb von sechs Monaten einer Kommune zugewiesen.
Susanne Stegmann und Andreas Schauerte, Schulleiter der AWS, können die Gesetzeslage nachvollziehen.
Diese individuelle Entscheidung jedoch nicht. „Aus pädagogischen Gründen ist es mir unerklärlich, wieso diese Jugendlichen aus ihrem neu gewonnenen gewohnten Umfeld herausgerissen werden”, so Andreas Schauerte. Nikita und Daria hätten sich sehr gut integriert und seien eine Bereicherung für den schulischen Alltag. „Nikita hat eine hohe Sozialkompetenz. Er half anderen Schülerinnen und Schülern, die neu zu uns kamen”, ergänzt Susanne Stegmann. Außerdem hätten sie sich gerade eingelebt, seien zur Ruhe gekommen und hätten an Sicherheit gewonnen. Einem jungen Menschen dies wieder wegzunehmen, sei nicht nur pädagogisch kontraproduktiv, sondern auch menschlich nicht verständlich.
1200 Geflüchtete wöchentlich aus der Ukraine
Im Juli wurden in Arnsberg 40 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen.
Im August waren es 36.
Diese Schutzsuchenden haben sich entweder direkt privat angemeldet oder haben sich zwecks Unterbringung an die Stadt Arnsberg gewandt.
Zum Monatswechsel August und September ist eine weitere Aufnahme von 30 Geflüchteten aus der Ukraine und 10 Geflüchteten aus anderen Drittstaaten angekündigt.
Mehr als 1200 Geflüchtete aus der Ukraine melden sich laut Runderlass des Landes NRW vom 22. August 2022 bei der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Bochum.
Seit Mitte Juli ist ein deutlicher Anstieg asylsuchender Ausländerinnen und Ausländer zu verzeichnen. Das Land hat die Kommunen daher gebeten, sich auf weitere Aufnahmen vorzubereiten. Hierfür stehen neue Unterkünfte in Hüsten und Alt-Arnsberg bereit.
Die AWS unterrichtet seit Februar 2016 geflüchtete Jungen und Mädchen der Klassen fünf bis zehn. So sind auch Nikita und Daria nach einer zweiwöchigen Eingewöhnungsphase direkt dem regulären Unterricht in spracharmen Fächern zugeteilt und erhalten zudem eine gezielte Deutschförderung. „Sie haben sich so wohl gefühlt“, sagt Susanne Stegmann, „und jetzt langweilen sie sich den ganzen Tag in der Massenunterkunft”.
Jugendliche können in der Regel auch in Landesunterkünften für Geflüchtete an einem „Schulnahen Angebot” teilnehmen. Eine Schulpflicht greift jedoch erst dann, wenn die Familien einer Gemeinde zugewiesen werden. Nikitas und Darias Mutter hat nun einen Asylantrag gestellt und hofft auf eine baldige Zuweisung. Bestenfalls natürlich zum Großvater nach Arnsberg.
Königsteiner Schlüssel entscheidet
Versprechen kann dies jedoch niemand, auch wenn die Stadt wohl einer Aufnahme der Familie in Arnsberg zugestimmt hat. Die Zuweisungen erfolgen nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. Dies kann Monate dauern. Es ist durchaus denkbar, dass Nikita und Daria nach ihrer Zeit „im Camp” ganz woanders leben werden.
Die Stadt Arnsberg teilt auf Anfrage dieser Zeitung mit, dass sie derzeit die Aufnahmequote nach der Verteilerstatistik des Landes NRW vom 19. August 2022 zu 85 Prozent erfüllt. Eine tatsächliche Bestandsaufnahme der in den Kommunen gemeldeten Geflüchteten aus der Ukraine, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, werde jedoch erst zum Stichtag 31. August 2022 ermittelt.
Integration gefährdet
Andreas Schauerte und Susanne Stegmann fragen sich indes, wie es sein kann, dass Kinder und Jugendliche zunächst einer Schule zugewiesen werden, um sie dann nach vielen Wochen wieder aus dieser Umgebung herauszuziehen. Fraglich ist für die Pädagogen, ob diese Vorgehensweise im Sinne einer positiven Entwicklung und funktionierenden Integration der Betroffenen ist.
„Wie sollen sich die Kinder und Jugendlichen fühlen, wenn sie hin und her gerissen werden?”, fragt sich Susanne Stegmann. „Und wie muss man sich fühlen, wenn man wie viele aus einem Kriegsland flieht, aber anders als andere behandelt wird”