Neheim/Zosin. Ilja Keller fährt 3200km hin und zurück zur ukrainischen Grenze, um jugendlichen Flüchtling zu erwarten. Neheimer erlebt bewegende Szenen.

Alexander ist in Sicherheit. Er sitzt im Auto seines entfernten Onkels Ilja Keller aus Neheim. Der 17-jährige Junge ist dem Krieg in der Ukraine entkommen, der ihn spätestens mit der Volljährigkeit fast noch als Kind an die Front gebracht hätte. Der Neheimer, selber in Russland geboren, war mit seinem Freund Maxim Wingert (40) aus Welver ins Dreiländereck zwischen Polen, Ukraine und Weißrussland gefahren und holte an der Grenze den Jungen und eine 30-jährige Freundin seiner ukrainischen Cousine ab.

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Der Entschluss reifte spontan. Freitagnachmittag machten sich Ilja Keller und sein Freund (ebenfalls ein Russlanddeutscher) auf den Weg. Nach einem Zwischenstopp in Breslau ging es über Umwege an den Grenzübergang, an dem die beiden Flüchtlinge am Ende ankommen sollten. Zosin erreichten die Helfer schließlich in der Nacht zu Sonntag, wo sie bis zum Nachmittag warteten, ehe Alexander (17) und Marina (30) nach mehr als 25-stündiger Odyssee und langer Wartezeit an der Grenze ankamen. „Hinter der Grenze gab es zum Teil chaotische Szenen“, sagt Ilja Keller.

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Die Flüchtlinge waren am Samstagmorgen mit dem Bus in Rivne, westlich von Lliw (Lemberg) aufgebrochen. Zuvor hatten sie die Nacht wegen Raketenalarms noch im Keller verbringen müssen. Ilja Kellers Cousine kam nicht mit über die Grenze: „Sie muss sich um eine stark gehandicapte Angehörige und ihre Mutter kümmern“, erzählt der Neheimer. Ihr Sohn aber sollte in Sicherheit, „damit er nicht später als junger Soldat im Krieg Kanonenfutter wird“.

Ilja Keller ließ an der Grenze Kinder  und Mütter in seinem Auto schlafen, damit sie sich aufwärmen konnten.
Ilja Keller ließ an der Grenze Kinder und Mütter in seinem Auto schlafen, damit sie sich aufwärmen konnten. © privat

Bewegende Szenen

Beim Warten auf die beiden Flüchtenden erlebten Ilja Keller und Maxim Wingert Bewegendes. „So viel Menschlichkeit habe ich hautnah noch nicht erlebt“, erzählt Ilja Keller. Als sie am Grenzübergang angekommen waren, parkten sie ihr Auto auf einem Seitenstreifen. „Dort saß schon eine ukrainische Frau mit Kindern bei minus zwei Grad und wartete auf Angehörige, die sie abholen würden“, erzählt der Neheimer. „Wir haben ihnen angeboten, sich im Auto aufzuwärmen“, so Keller. Ein Angebot auf Russisch, in der Sprache der Invasoren. „Damit sie uns vertrauen, gab ich ihnen den Autoschlüssel. Und wir gingen spazieren“, erzählt Keller. Als er wiederkam war auch noch eine Frau mit einem Baby im Auto, und die Kinder schliefen auf dem Rücksitz. „An der Grenze gab es keinen Unterschied mehr zwischen Russen und Ukrainern“, so Ilja Keller. Beim Abschied habe es später große Dankbarkeit und bewegende Umarmungen gegeben.

Maxim Wingert und Ilja Keller auf dem Weg an die ukrainische Grenze.
Maxim Wingert und Ilja Keller auf dem Weg an die ukrainische Grenze. © privat

Die Szenen von der Grenze brennen sich in die Erinnerung von Ilja Keller. „Das sind grausame Bilder“, sagt der 38-jährige Neheimer Direktor der Deutschen Bank vor Ort. „99 Prozent der Fliehenden sind Frauen mit Kindern“, berichtet er. Am Grenzübergang sei die Hilfsbereitschaft und Organisation der Polen perfekt. Lebensmittel, warme und kalte Getränke, Kleidung und Windeln - „einfach alles, was man in so einer Lage benötigt“. Und ganz viele Polen würden helfen beim Verteilen, beim Empfangen der Flüchtenden und beim Weitertransport. „Viele kommen mit ihren Autos und bieten an, die Menschen dort hin nach Polen zu fahren, wohin sie wollen“, so Keller, „die Hilfsbereitschaft ist enorm“. Davon würden auch die wartenden Angehörigen an der Grenze profitieren dürfen.

Lob für Bürgermeister Ralf Bittner

Ilja Keller lobt Bürgermeister Ralf Bittner (SPD) für dessen schnelle Organisation der Ukraine-Flüchtlingshilfe in Arnsberg. „Er war ständig mit mir in Kontakt“, so Keller, der auch Neheimer CDU-Ortsvorsitzender ist.

Der Arbeitgeber von Ilja Keller, die Deutsche Bank, genehmigte „innerhalb von zwei Minuten“ sofort die humanitäre „Dienstfahrt“ an die polnisch-ukrainische Grenze und übernahm dafür auch die Kosten.

Von der anderen Seite der Grenze erfuhr Ilja Keller anderes. „Hier fehlt es an vielen“, habe er gehört. 20 Stunden mussten Alexander und Marina bei Minustemperaturen warten ehe sie die Grenze überqueren konnten. Berichtet wurde Ilja Keller auch von Fluchtprofiteuren auf der ukrainischen Seite. „Unfassbar - da gibt es doch immer Menschen, die aus der Not anderer Kasse machen wollen“, erzählt Keller von „Fluchthelfern“, die Ukrainerinnen und ihre Kinder nur für viel Geld aus den Städten an die Grenze bringen.

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Am Sonntagabend machten sich die beiden Freunde mit ihren „Gästen“ dann auf den Heimweg nach Arnsberg. Eine surreale Situation: „Mein Neffe hat mich noch nie im Leben gesehen“, erzählt Ilja Keller noch während der Fahrt, „jetzt sitzt er hinten im Auto und schläft. Er ist verängstigt und verschüchtert“. Nach einer Nacht in Sicherheit in einem Hotel in Breslau ging es am Montag zurück ins Sauerland. 3200 Kilometer hat Ilja Keller zurückgelegt, wenn er wieder zu Hause ist. „Man funktioniert da einfach“.

Der Junge wird vorerst bei ihm bleiben - ebenso wie Marina, bis eine Bleibe geklärt ist. „Die Hilfsangebote aus Arnsberg sind überwältigend“, sagt Ilja Keller. Er hofft, dass das Kämpfen in der Ukraine bald ein Ende hat. „Es mag unterschiedliche Auffassung und Erklärungen für die Invasion geben, aber es herrscht bei den Menschen auf beiden Seiten doch eigentlich der Konsens, dass dieser Krieg gestoppt werden muss.“