Arnsberg. Wiederöffnung der Grundschulen für alle Klassen wird unter Beteiligten kontrovers diskutiert: Experiment oder nötiger Schritt für das Kindeswohl?

Hin- und hergerissen: In den Reaktionen von Schulleitungen, Vertretern der Lehrerverbände und aus der Politik zeigt sich die allgemeine Verunsicherung nach dem Beschluss der NRW-Landesregierung, dass ab kommendem Montag alle Klassen wieder täglich in die Schulen kommen sollen. Ein Stimmungsbild zwischen Sorgen um Gesundheit, Vorfreude auf die Kinder und organisatorischen Bedenken.

Verärgert

Verärgert zeigt sich Antje Huber, Schulleiterin der Grundschule in Müschede. „Als ich die Schulmail am Freitag gelesen habe, war ich fassungslos und wütend“, sagt sie, „nicht nur, dass wieder einmal die Schulen nicht vor der Öffentlichkeit informiert wurden oder entgegen einem breiten Bündnis aus Elternvertretern, Verbänden oder Schülervertretern diese Entscheidung getroffen wurde, sie ist in meinen Augen unverantwortlich, unnötig und nicht zu Ende gedacht“.

Der „tägliche Grundschul-Regelbetrieb“ ab 15. Juni

Die Landesregierung möchte allen Kindern und Jugendlichen wieder regulären Unterricht im neuen Schuljahr ermöglichen.

In einem „ersten Schritt“ öffnet NRW jetzt kurzfristig die Grundschulen, und zwar „täglich im Regelbetrieb“. Alle Klassen treffen sich ab 15. Juni, möglichst wieder wie vor der Corona-Pause. Das Abstandsgebot fällt, Klassen sollen nicht geteilt werden.

Die Abstandsregeln werden durch „konstante Lerngruppen“ ersetzt, die den Infektionsschutz gewährleisten sollen: fester Klassenverband, laufende Dokumentation der Anwesenheit von Kindern, gestaffelte Anfangs- und Pausenzeiten.

Verständnis für die Entscheidung äußert Martina Kleinschmidt, kommissarische Schulleiterin der Josef-Grundschule Bergheim. „Wir haben aber auch Rückmeldungen von besorgten Eltern und Kindern bekommen, die Neuinfektionen befürchten. Insbesondere Kinder brachten Sorge um die Großeltern zur Sprache“. Einige Eltern würden wollen, dass ihre Kinder im Unterricht durchgehend einen Mundschutz tragen. Die neue Planung wäre jetzt zudem sehr aufwändig.

„Die Vorbereitungszeit ist meiner Meinung nach völlig ausreichend“, sagt Marion Beine, Schulleiterin der Johannes-Grundschule in Arnsberg. Sie hält die komplette Wiederöffnung für sinnvoll und umsetzbar. „Gleichwohl sollte man weiterhin auf Hygieneregeln wie den Abstand und den Mundschutz achten, in der Hoffnung, dass wir dann nach den Sommerferien die Schulen weiter geöffnet lassen können.“

Die „Informationspolitik“ hingegen kritisiert auch Andrea Deyda, Leiterin der Regenbogenschule. Vor allem aber sieht sie praktische Probleme der Umsetzbarkeit. „Ein Punkt ist, dass wir die Stunden laut Stundentafel gar nicht unterrichten können, da einige Lehrer ja zur Risikogruppe gehören und ein Attest vom Arzt haben“, so die Schulleiterin.

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Offene Fragen

Mehr Verständnis zeigt Simone Eickhoff von der Grundschule Dinschede: „Es gibt noch ein paar offene Fragen. Wenn wir diese klären können, sind wir startklar. Klar wäre es einfacher gewesen, wenn vor ein paar Wochen bereits gesagt worden wäre, wie es bis zum Zeitpunkt x abläuft. Aber ich kann verstehen, dass in der momentanen Situation nicht mit Weitblick geplant werden kann.“ Die Kinder sieht nicht im Ferienmodus: „Sie sind immer total glücklich, wenn sie in die Schule dürfen und freuen sich aufs Wiedersehen.“

Kritik vom VBE

Langjährige Erfahrung als Schulleiterin der Josef-Grundschule Bergheim hat Anne Deimel, die nun allein für den Verband Bildung Erziehung (VBE) NRW spricht. „Es wäre sinnvoll gewesen, den Schulleitungen und Lehrkräften in dieser Zeit vor den Sommerferien Unterstützungen für die schwierigen Planungen des neuen Schuljahres anzubieten. Schulinterne Lehrpläne müssen gesichtet und der aktuellen Situation angepasst, Präsenzunterricht und Lernen auf Distanz müssen tragfähig konzeptioniert werden. Davon würden alle Schülerinnen und Schüler profitieren“.

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Sie verweist auf Probleme bei der Umsetzung, ein zu knappes Zeitfenster der Planung und auch auf die fehlenden personellen Ressourcen. Insgesamt kommt sie zu dem Urteil: „Die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen ist zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehbar.“ Lehrer und Schüler müssten sich wie in einem Experiment sehen. „Von einem Tag auf den anderen erklärt das Ministerium diese Schutzmaßnahmen für den Alltag in den Schulen der Primarstufe für nicht mehr notwendig“, so Deimel, „es ist ein unglaublicher Vorgang, ein Spiel mit dem Feuer. Ob und wie Grundschulkinder Infektionen übertragen, weiß niemand sicher.“

Jerusalem hat Kinder im Fokus

Differenziert betrachtet Nicole Jerusalem als Vorsitzende des Schulausschusses der Stadt Arnsberg als Schulträger den Entschluss. Sie sieht Probleme für den Offenen Ganztag, wenn Klassen-Gruppen nicht vermischt werden dürfen und weiß auch, dass die Planungszeit gering ist.

Aber: „Kinder brauchen Kinder. Für sie ist es eine großartige Nachricht, auch wenn es für die handelnden Personen vor Ort einen großen Aufwand bedeutet“, sagt Jerusalem. „Ich bin sicher, dass die Kinder es als ein großes Geschenk empfinden, dass sie endlich ihre Freunde und Klassenkameraden fünf Tage am Stück zwei Wochen lang wiedersehen dürfen.“

Schulleiterin Marion Spitzcok von Brisinski von der Urbanus-Grundschule Voßwinkel sieht die Schulen bei der Wiederöffnung im „Dienst einer eigentlich guten Sache“. Dennoch bleibe ein bisschen Bauchschmerz bei den Lehrkräften, die ja nun auch ungeschützt in die großen Klassen ohne Abstandsregelung zurück müssten.

Stadtelternsprecherin hält Schritt für vertretbar

Die Stadtschulpflegschaftsvorsitzende Julia Pauli hält die Rückkehr zum Regelunterricht in den Grundschulen ab 15. Juni für angebracht. „Die Rückkehr zum Unterricht im Klassenverband ist für viele Eltern eine Erleichterung, doch es gibt natürlich auch Ängste, ob der Zeitpunkt nicht zu früh ist“, sagt sie. „Ich persönlich denke, dass die Wiedereröffnung der Schulen auf jeden Fall den Bedürfnissen der Kinder Rechnung trägt und in der aktuellen Situation sozial wie ethisch vertretbar ist“.

Für Familien bringe der Beschluss wieder etwas mehr Normalität: „Den Schülerinnen und Schülern wird es guttun, sich noch einmal im Klassenverband zu treffen“, so Julia Pauli, „vor allem für Viertklässler ist es schön, dass ihre Grundschulzeit dann noch einen gemeinsamen Abschluss findet“. Es sei aber klar, dass verpasster Schulstoff nicht innerhalb von zwei Wochen aufgeholt werden könne.

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Die größten Herausforderungen sieht Julia Pauli aufseiten der Schulen: Anstatt sich jetzt schon intensiv auf das neue Schuljahr vorbereiten zu können, müssen die Schulen kurzfristig umplanen. Ein großes Fragezeichen sieht die Stadtschulpflegschaftsvorsitzende beim Thema Offene Ganztagsschule (OGS). Hier müssten die Schulen und OGS-Träger kurzfristig Wege finden, die es ermöglichen, die Kinder nach Klassen zu trennen. Um das personell zu leisten, so Julia Pauli, könnten auch ganz neue Ansätze wie ehrenamtliche Unterstützung in Betracht gezogen werden.