Arnsberg. Rückkehr aller Klassen in Grundschulen hinterlässt bei Beteiligten eine zerrissene Stimmungslage in Arnsberg. Hier das Spiegelbild des Disputs.

Eine Frage - viele Antworten. Die Gegenüberstellung von Interview-Rückmeldungen der Arnsbergerin und stellvertretenden Landesvorsitzenden des Lehrerverbandes VBE, Anne Deimel, auf der einen Seite und Nicole Jerusalem, CDU-Politikerin und Arnsberger Schulausschussvorsitzenden, auf der anderen Seite sowie von den Schulleiterinnen Simone Eickhoff von der Grundschule Dinschede und Antje Huber von der Grundschule Müschede spiegeln ein zerrissenes Meinungsbild wider.

Anne Deimel aus Arnsberg, stellvertretende Landesvorsitzende des Lehrerverbandes VBE.
Anne Deimel aus Arnsberg, stellvertretende Landesvorsitzende des Lehrerverbandes VBE. © Frank Albrecht

Halten Sie die Wiederöffnung der Grundschulen jetzt vor den Ferien noch für sinnvoll?

Anne Deimel: Die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen ist zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehbar. Die Schulleitungen haben, gemäß den Anweisungen des Ministeriums, ihre Planungen bis zu den Sommerferien aufgestellt, um besonders Kindern und Eltern verlässliche Informationen und Planungssicherheit zu geben. Ich bin, wie alle in Schule Tätigen, keine Virologin und verlasse mich in dieser Zeit der Corona-Pandemie auf die Expertinnen und Experten. Ich trage, wann immer notwendig einen Mund-Nasen-Schutz und halte die Abstandsregeln ein. Von einem Tag auf den anderen erklärt das Ministerium diese Schutzmaßnahmen für den Alltag in den Schulen der Primarstufe für nicht mehr notwendig. Das ist ein unglaublicher Vorgang, ein Spiel mit dem Feuer. Denn ob und wie genau Kinder im Grundschulalter die Infektion übertragen, weiß niemand sicher. Viele Schulleitungen und Lehrkräfte fühlen sich wie in einem Experiment. Ich höre oft, dass doch immer mehr geöffnet wird und es zum Beispiel nicht nachvollziehbar ist, dass Restaurants und Schwimmbäder offen sind, aber die Schulen nicht. Darauf antworte ich: An keiner Stelle im öffentlichen Bereich halten sich Erwachsene mit vielen Kindern über mehrere Stunden in einem Raum auf, ohne Schutzkleidung. Auch viele Eltern sind besorgt. Sie suchen das Gespräch mit den Schulleitungen, um ihre Kinder vom Unterricht befreien zu lassen.

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Spuren bei Kindern hinterlassen?

Nicole Jerusalem: Man könnte meinen, dass es sich nicht mehr lohnt. Aber ich persönlich glaube, dass es ein wichtiger Schritt ist, besonders weil die Infektionen bei uns quasi bei Null sind. Wieso also die Kinder länger vereinsamen lassen? Kinder brauchen Rhythmus, Struktur und die Gemeinschaft mit anderen Kindern um voran zu kommen. Eltern können Lehrer auch nicht auf Dauer ersetzen. In Teilen sind die häuslichen Beziehungen durch das Homeschooling stark belastet. Ich freue mich auch besonders für die Kinder der 4. Klassen, die einen vernünftigen Abschluss ihrer Grundschulzeit verdienen. Ein bisschen Normalität tut Familien jetzt gut. Das wichtigste für mich ist aber die Chance, mit einem professionellen Auge zu erkennen, was die Coronazeit den einzelnen Kindern abverlangt hat. Ich habe die Sorge, dass diese Zeit der Abschottung bei vielen Kindern große Spuren hinterlassen wird.

Simone Eickhoff: Ich finde es nicht schlecht, dass die Schulen noch einmal komplett öffnen. So haben alle Beteiligten - Eltern, Lehrer, Politiker und Wissenschaftler - eine Rückmeldung, wie sich das Infektionsgeschehen nach der Komplettöffnung verhält. Hinzu kommt, dass wir zumindest für zwei Wochen die Familien noch ein Stück entlasten können und allen ein bisschen Normalität zurückgeben. Ein Probelauf, um zu schauen, wie es nach den Ferien weitergehen kann.

 Antje Huber leitet die Grundschule Müschede.  
 Antje Huber leitet die Grundschule Müschede.   © Katrin Clemens

Antje Huber: Als ich die Schulmail am Freitag gelesen habe, war ich fassungslos und wütend. Nicht nur, dass wieder einmal die Schulen nicht vor der Öffentlichkeit informiert wurden oder entgegen einem breiten Bündnis aus Elternvertretern, Verbänden, Schülervertretern usw. diese Entscheidung getroffen wurde, sie ist in meinen Augen auch unverantwortlich, unnötig und - wie so oft - nicht zu Ende gedacht. Vorerkrankte Kolleginnen, die übrigens auf Anweisung des Schulministeriums bisher nicht für Präsenzunterricht und Notbetreuung eingesetzt werden sollten, und nicht, weil sie keine Lust zum Arbeiten hatten, stehen jetzt wieder vollen Klassen ohne Abstandsregelung und Maskenpflicht gegenüber.

Reicht die Zeit der Vorbereitung für die Schulen?

Anne Deimel: Es wird sehr zeitaufwendig sein, diese Planungen für die zwei Wochen vor den Ferien umzusetzen. Die Klassenverbände sollen zeitversetzt kommen, der Schülerspezialverkehr muss hier berücksichtigt werden. Auch die Pausen sollen zeitversetzt stattfinden. Sehr schwierig wird es sein, den Stundenplan zu erstellen. Welche Lehrkräfte gehen in welche Klassen ohne zu große Infektionsketten entstehen zu lassen? Der Fachunterricht wird nicht immer möglich sein. Die Lehrkräfte werden auch Unterrichtsfächer unterrichten müssen, die sie weder studiert noch je unterrichtet haben. Zur Wahrheit gehört, dass durch die nicht vollständige Lehrerversorgung viele Schulen nicht die komplette Stundentafel anbieten können. Extrem schwierig gestaltet sich die Durchführung des offenen Ganztags. Auch hier soll es ja keine Gruppenvermischungen geben. Das bedeutet in der Umsetzung, dass viel Personal benötigt wird, das aber nicht in dem notwendigen Ausmaß zur Verfügung steht.

Nicole Jerusalem: Ein klares Nein. Das Problem liegt darin, dass es nicht nur darum geht, den Vormittag mit unterschiedlichen Ankunfts- und Pausenzeiten zu planen. Der offene Ganztag ist mit der Vorgabe, die Gruppen nicht zu vermischen, so personell nicht darstellbar. Das war von der Schulministerin nicht zu Ende gedacht. Als Schulträger müssen wir die Schulen jetzt unterstützen. Entweder die Kinder dürfen sich mischen und alle in die OGS oder es wird das Personal im Nachmittagsbereich hoch gefahren oder es geht je nach Standort immer nur die Hälfte der Kinder in die OGS. Aus meiner Sicht wäre aber das Pragmatischste die Bedarfe und Gegebenheiten mit den Eltern vor Ort offen zu besprechen. Vielleicht kann jedes Kind die Hälfte der Zeit in die OGS oder es gelingt, diese zwei Wochen mit Hilfe von Ehrenamtlern zu überbrücken. Arnsberg hat schon immer gezeigt, dass das Ehrenamt auch spontan Großartiges zu leisten im Stande ist.

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Ein paar offene Fragen

Simone Eickhoff: Es gibt noch ein paar offene Fragen. Wenn wir diese zu Beginn der kommenden Woche klären können, sind wir startklar. Klar wäre es einfacher gewesen, wenn vor ein paar Wochen bereits gesagt worden wäre, dass es bis zum Zeitpunkt x so läuft und ab da halt anders. Aber ich kann es auch verstehen, dass in der momentanen Situation nicht mit Weitblick geplant werden kann.

Antje Huber: Ich könnte noch lange weitere Punkte aufzählen, die uns in der erneuten Planung großes Kopfzerbrechen bereiten. Und da die Schulmail wieder einmal an einem Freitag kam und in dieser Woche auch noch ein Feiertag mit Brückentag liegt, ist die Vorbereitungszeit denkbar knapp. Denn auch wir Schulleitungen sind ja häufig am Vormittag in den Präsenzunterricht oder die Notbetreuung eingebunden. Selbst bei unserer kleinen Schule mit nur vier Klassen haben wir bei gestaffelten Anfangszeiten 60 Minuten Ankunftsverkehr. Glücklicherweise gibt es bei uns keine Buskinder, denn ich wage zu bezweifeln, dass die Busunternehmen die Kinder jahrgangsweise transportieren. Aber wir haben viele Geschwisterkinder in unterschiedlichen Klassen, die sicherlich morgens nicht getrennt auf den Schulweg geschickt werden. Auch bei gestaffelten Pausenzeiten herrscht 60 Minuten Pausenlärm auf dem Schulhof, zum dem alle Klassenräume ausgerichtet sind. Ablenkung für die anderen Kinder, die schon wieder lernen wollen.

Nicole Jerusalem, Vorsitzende des Schulausschusses der Stadt Arnsberg.
Nicole Jerusalem, Vorsitzende des Schulausschusses der Stadt Arnsberg. © privat

Sind die Kinder nicht längst im „Ferienmodus“?

Anne Deimel: Viele Kinder werden sich freuen, wieder täglich in den Schulen sein zu können. Sie wissen ja schon, dass Schule für sie zurzeit mit vielen Einschränkungen versehen ist. Es wird aber ein Bild vermittelt, als wenn man Grundschulkinder für einige Stunden auf einen Platz setzen kann und diese dann konzentriert arbeiten und lernen. Dieses Bild ist weit weg von der Realität eines guten Unterrichts in einer Klasse mit vielen verschiedenen Kindern.

Nicole Jerusalem: Das hört sich für mich etwas geringschätzend den Kindern gegenüber an. Ferienstimmung braucht Unbeschwertheit. Das kann ich aktuell nirgends erkennen. Die Kinder haben die vergangenen Wochen unter unterschiedlichsten Bedingungen verbracht und verbringen müssen. Zum Teil waren sie wochentags viele Stunden alleine zuhause und mussten zum Teil noch auf ihre kleinen Geschwister aufpassen. Von jungen Kindern zu verlangen, dass sie mehrere Stunden am Tag selbstständig Schule machen, geht völlig an der Realität vorbei. Und deshalb wird folgendes statt gefunden haben. Bildungsaffine Elternhäuser haben dafür gesorgt, dass ihre Kinder am Ball bleiben, was für die Beteiligten auch nicht nur freudvoll ist. Andere haben sich gar nicht kümmern können - mangels Kenntnis, Muße oder ausreichend Zeit für die Unterstützung. Der aktuelle Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht ist für Kinder noch schwieriger, verwirrender und kraftzehrender geworden. Ich erlebe und höre nur von Kindern, die „ihre“ Vor-Corona-Normalität, also den täglichen Schulbesuch, einen regelmäßigen Tagesablauf und besonders die anderen Kinder total vermissen. Wenn es jetzt hieße, die anstehenden Sommerferien würden zugunsten normalem Schulalltag deutlich verkürzt, wäre das sicherlich kein Problem für die Kinder.

Simone Eickhoff: Unsere Erfahrung aus den Präsenztagen ist, dass die Kinder ganz und gar nicht im Ferienmodus sind. Sie sind immer total glücklich, wenn sie in die Schule dürfen und freuen sich - wie wir Lehrerinnen - auf das Wiedersehen. Viele Kinder haben erzählt, dass sie nie gedacht hätten, dass sie sich mal so auf die Schule freuen würden.

Warum könnte es dennoch sinnvoll sein?

Anne Deimel: Das Ministerium sagt in seiner 23. Corona-Schulmail, dass die Grundschulen und die Primarstufen der Förderschulen grundsätzlich zu einem Regelbetrieb mit Unterricht möglichst gemäß der Stundentafel zurückkehren. Diese Wortwahl macht sehr deutlich, dass die Politik weiß, dass es zurzeit für die Schulen nicht möglich ist, einen Schulalltag wie vor Corona aufzunehmen. Bereits seit langer Zeit weist der VBE immer wieder auf die deutliche Unterfinanzierung der Schulen hin. Es fehlen, vor allen Dingen in den Grund- und Förderschulen, ausgebildete Lehrkräfte, im Ganztagsbereich fehlen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, es mangelt an Räumen und einer zeitgemäßen digitalen Ausstattung. Es wäre sinnvoll gewesen, den Schulleitungen und Lehrkräften in dieser Zeit vor den Sommerferien Unterstützungen für die schwierigen Planungen des neuen Schuljahres anzubieten. Schulinterne Lehrpläne müssen gesichtet und der aktuellen Situation angepasst, Präsenzunterricht und Lernen auf Distanz müssen tragfähig konzeptioniert werden. Davon würden alle Schülerinnen und Schüler profitieren.

Nicole Jerusalem: Ich versuche immer mit den Augen der Kinder auf das Geschehen zu schauen, weil deren Interessen fast immer zu kurz kommen. Besonders in den letzten Monaten! Kinder brauchen Kinder. Und für die Kinder ist es eine großartige Nachricht, auch wenn es für die Handelnden Personen vor Ort einen großen Aufwand bedeutet. Ich bin sicher, dass die Kinder es als ein großes Geschenk empfinden, dass sie endlich ihre Freunde und Klassenkameraden fünf Tage am Stück zwei Wochen lang wiedersehen dürfen.

Unverständnis bei Eltern erkannt

Antje Huber: Ich erachte es nicht als sinnvoll. Über das Wochenende habe ich einige Rückmeldungen aus unserer Elternschaft erhalten, in denen durchweg Unverständnis für die Entscheidung des Schulministeriums geäußert wird. Alles war gut organisiert und durchgeplant an unserer Schule. Die Eltern und Kinder und Lehrerinnen hatten sich auf die Präsenztage bis zu den Sommerferien eingestellt. Die an der Schule gültigen Corona-Regeln haben sich über die letzten Wochen eingespielt. Manche Eltern äußerten auch ihre Besorgnis, dass sich Kinder, Lehrerinnen oder Betreuerinnen der OGS nun anstecken könnten. Der Vorteil, dass sich alle Kinder einer Klasse noch einmal gemeinsam im eigenen Klassenraum sehen - wir haben in den letzten Wochen in der Aula und der Turnhalle unterrichtet, damit die Abstandsregeln eingehalten werden konnten - steht in keinem Verhältnis zur Unruhe, die diese erneute Planänderung mit sich bringt, und dem damit einhergehenden Ansteckungsrisiko.