Medebach/Niedersfeld. In Medebach steht ein Lkw-Fahrer wegen Unfallflucht bei Niedersfeld vor Gericht. Er verlor Führerschein und Job. Einem Unfallopfer kommen Tränen.

Der Vorwurf wiegt schwer: Ein 43-jähriger Kraftfahrer aus Unna soll am 9. Mai einen Auto-Transporter in einer unübersichtlichen S-Kurve zwischen Wiemeringhausen und Niedersfeld überholt haben. Dadurch mussten zwei Frauen in einem entgegenkommenden Peugeuot ausweichen, gerieten in die Böschung und wurden beide verletzt. Der 43-Jährige fuhr weiter ohne anzuhalten. Die Anklage vor dem Amtsgericht Medebach lautet somit „grob fahrlässige Körperverletzung und Unfallflucht“.

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Nach den Zeugenaussagen ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild, das Verfahren ist eingestellt worden. Der Unnaer ist verheiratet und hat drei Kinder. Aufgrund des Unfalls verlor er seinen Führerschein und damit seine Stelle als Kraftfahrer für eine Berliner Spedition, die Familie lebt seitdem von Arbeitslosengeld, Aufstockung sowie dem Minijob der Ehefrau.

Angeklagter: Bin nicht bewusst geflüchtet

Der Angeklagte schildert das Überhol-Manöver aus seiner Sicht: Mit seinem LKW samt Anhänger sei er bereits längere Zeit mit dem auf ca. 63 km/h eingestellten Tempomat einem relativ langsam fahrenden Autotransporter auf der B 480 gefolgt. Als dieser vor einem Parkplatz in einer langgezogenen S-Kurve vor Niedersfeld das Tempo deutlich verringert habe und dort ein Transporter derselben Auto-Spedition zu sehen gewesen sei, sei er davon ausgegangen, dass die beiden sich dort treffen wollten, und setzte daher zum Überholen an. Der Transporter sei jedoch wider Erwarten nicht auf den Parkplatz abgebogen, stattdessen sei der zweite plötzlich davor auf die Bundesstraße gefahren. Es habe im laufenden Überholvorgang weder die Möglichkeit zum Abbremsen noch eine ausreichende Lücke zum Einscheren zwischen den beiden Transportern gegeben. Deshalb versuchte der 43-jährige, beide Fahrzeuge zu überholen, wobei ihm plötzlich der Peugeuot entgegengekommen sei. Er habe nur gesehen, dass dieser ausgewichen sei, im Rückspiegel hätte er aufgrund der Kurve nichts mehr erkennen können, außerdem habe er sich auf seine Spur konzentriert, weil der Vorgang „eine echt knappe Kiste war; er sei „heilfroh, dass es nicht geknallt“ habe. Er sei nicht bewusst geflüchtet, sondern habe von dem Unfall erst erfahren, als ihn die Polizei in Züschen angehalten habe.

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Etwas anders lautet die Darstellung des Fahrers des Transporters vor ihm. Der 53-jährige Zeuge aus Bitterfeld betont ausführlich, dass er vor dem Parkplatz nicht stark abgebremst habe und die Abstände seiner Erinnerung nach sowohl groß genug zum Einscheren als auch zum Abbiegen seines Kollegen im zweiten Transporter gewesen seien. Ein Treffen auf dem Parkplatz sei nicht geplant gewesen. Ebenfalls als Zeugen geladen sind die beiden Insassinnen des Peugeuots, die auf dem Weg zur Berufsschule waren. Die Fahrerin (18) ist vor Gericht entschuldigt, die Beifahrerin (zum Unfallzeitpunkt 17) beschreibt das Geschehen, dass sich innerhalb von Sekunden abspielte. Als sie sich den Moment vor Augen ruft, in dem zwei LKW vor ihnen fast auf gleicher Höhe auftauchen und der eine frontal auf die beiden zukommt, fließen Tränen. „Fahr dahin, fahr dahin“, habe sie nur noch gerufen, dann sei die Fahrerin reflexartig nach links aufs Bankett gezogen und vor die Böschung geprallt. Sie erlitt ein Schleudertrauma und ist zudem bis heute in psychologischer Behandlung. Die Beifahrerin wurde an der Schulter verletzt. Beide kamen ins Krankenhaus, am Peugeuot entstand Totalschaden.

Entschuldigung per Handschlag

Der Angeklagte fragt die Zeugin, ob er sich bei ihr entschuldigen und ihr die Hand geben darf, was diese zulässt. Nach Auswertung der Zeugenaussagen, des Unfallprotokolls und Begutachtung der kurvigen Unfallstelle auf einer Karte stufen Richter Michael Neumann und die Staatsanwältin Sabine Krippendorf die Aussagen des Zeugen mit dem Autotransporter zu Abständen und Geschwindigkeiten als „extrem beschönigt“ ein: Sowohl er als auch sein Kollege hätten durch ihr Fahrverhalten erheblich zum missglückten Überholmanöver beigetragen. Nach Rücksprache des Angeklagten mit seinem Anwalt gehen beide auf den Vorschlag ein, das Verfahren gegen Verzicht auf Entschädigungen für den Verdienstausfall durch die entzogene Fahrerlaubnis einzustellen.

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Als der Angeklagte seinen Führerschein vom Richter zurückbekommt, ist ihm die Erleichterung sichtlich anzumerken. Richter Neumann bemerkte zum Abschluss: „So schnell kann aus einem Fahrfehler ein krimineller Vorgang werden.“