Brilon. Die Abnehm-Spritze „Wegovy“ verspricht Wunder. Dr. Martin Pronadl vom Adipositas-Zentrum kennt das Mittel und bewertet das Life-Style-Medikament.
Mühelos abnehmen ohne quälende Diäten, Sport-Programm oder gar eine OP – das klingt für viele Menschen, die zu viele Pfunde mit sich herumtragen, wie ein Traum. Dementsprechend warten in Deutschland Diätgeplagte sehnsüchtig darauf, dass die in den USA teilweise als Life-Style-Produkt gefeierte neue „Abnehm-Spritze“ „Wegovy“ auch in Deutschland verfügbar ist. Doch für wen macht dieses Medikament überhaupt Sinn? Darüber haben wir mit Dr. Martin Pronadl gesprochen. Er ist Facharzt für Chirurgie und Viszeralchirurgie am Städtischen Krankenhaus Maria Hilf in Brilon und Leiter des Adipositas-Zentrums.
Medikament reguliert Blutzuckerspiegel
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Der Mediziner arbeitet seit über 20 Jahren als Adipositas-Chirurg. Er erzählt, dass die jetzt vor allem in sozialen Medien von Nutzern angepriesene Spritze im Grunde teilweise das bewirkt, was auch durch die klassische Adipositas-Operation erreicht wird, bei der der Magen-Darm-Trakt verkürzt wird: „Das körpereigene Darmhormon GLP-1 wird erhöht und dadurch verbessern sich die Blutzuckerwerte der Patienten und sie verlieren deutlich an Gewicht.“ Dieses Phänomen habe man bereits vor vielen Jahren in der Medizin festgestellt. Die Forschung habe das aufgegriffen, so dass das für diesen Effekt verantwortliche Hormon inzwischen synthetisch hergestellt und zur Behandlung von Patienten eingesetzt werde, die an Diabetes-Typ 2 (Altersdiabetes), erkrankt sind. Vorteil: Das Medikament reguliere den Blutzuckerspiel und bewirke gleichzeitig eine Appetit-Reduzierung.
Missbrauch als Life-Style-Medikament
Dr. Pronadl erklärt: „Dieser Wirkstoff wird im Rahmen der Diabetes-Therapie in Deutschland inzwischen seit über zehn Jahren als Therapie bei Zuckererkrankungen eingesetzt, für die Adipositas-Therapie sind die Medikamente aber bei uns im Gegensatz zu Amerika erst seit kurzem auf dem Markt.“ Die Zulassung habe in den USA zu einem regelrechten Hype geführt, vor allem, nachdem Prominente öffentlich von ihren Erfolgen bei der Gewichtsreduzierung durch die „Abnehm-Spritze“ berichtet hätten. Dadurch habe sich die Spritze in Amerika zu einem Life-Style-Medikament entwickelt. Es gebe dort schlanke, junge Frauen, die sie anwenden, damit sie ins Hochzeitskleid in kleiner Kleidergröße passen.
Medikamenten-Engpass in Deutschland
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„Die Folge ist, dass durch die große Nachfrage Medikamente mit diesem Wirkstoff zeitweise in Europa und in Deutschland nicht mehr für Menschen verfügbar sind, die sie zur Behandlung ihrer Diabetes brauchen“, so der Briloner Mediziner. Er vertritt eine klare Position: „Ich fände es gut, wenn in Deutschland diese Medikamente breite Anwendung finden würden. Die Nebenwirkungen sind überschaubar, teilweise klagen Patienten allerdings über Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Völlegefühl und Appetitlosigkeit. Ich könnte mir den Einsatz des Wirkstoffs für extreme Adipositas-Fälle mit einem Body-Maß-Index von 50 und mehr vorstellen. Doch klar ist auch: Adipositas ist eine chronische Erkrankung. Die wird dadurch nicht geheilt.“
Kosten
Die Möglichkeit, das Medikament auch durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert bei Adipositas einzusetzen, würde er sich auch deshalb wünschen, weil dann nicht nur Menschen, die über genug Geld verfügen an die Abnehm-Spritze kommen könnten. Denn momentan sei es möglich, quasi auf eigene Kosten das Mittel über ein Privatrezept zu erhalten. Bei einer wöchentlichen Verabreichung kämen da aber rund 3600 Euro an jährlichen Kosten zusammen. Wenig hält der Facharzt allerdings davon, dass Menschen die Spritze einsetzen, obwohl sie gar kein Übergewicht haben: „Ich würde es sehr in Frage stellen, wenn jemand, der einen BMI von 22 hat, das Mittel verwenden möchte. Als Arzt geht es mir nicht um Life-Style, sondern darum, kranken Menschen zu helfen.“
Krankenhaus Brilon behandelt Adipositas-Patienten
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Der Briloner Adipositas-Chirurg macht deutlich, dass stark übergewichtige Patienten auch ohne „Abnehm-Spritze“ eine gute Chance auf dauerhafte Reduzierung ihres Körpergewichts erreichen und damit ihre Lebenserwartung enorm verbessern können. Das Briloner Krankenhaus ist seit zwei Jahren Adipositas-Zentrum. Als Gesamt-Behandlungskonzept werden dort sowohl die Diagnostik als auch die Behandlung der Krankheit angeboten. Bei der Behandlung geht es sowohl um chirurgische Maßnahmen wie zum Beispiel einen Schlauchmagen, einen Magenbypass oder einen Magenballon als auch um nicht-chirurgische Angebote wie Ernährungsberatung, Bewegungstherapie und Diabetologie. Eine OP sei für Patienten ab einem BMI von 40 eine Behandlungsmöglichkeit, erklärt Dr. Martin Pronadl. Klar sei aber auch: „Auch nach einer OP bekommt man keine Kleidergröße 38, aber man erreicht eine deutliche Gewichtsreduktion, die wiederum einen positiven Einfluss auf den gesamten Stoffwechsel hat. Die Operation allein reicht allerdings nicht aus.“
Wichtig: Begleitende Therapie
Deshalb müssen alle Patienten, die sich für eine OP entscheiden, vorher ein sechsmonatiges Programm durchlaufen, das eine Ernährungstherapie, eine Bewegungstherapie und eine psychologische Befunderhebung umfasst. Erst dann könne eine OP beantragt werden, so Dr. Martin Pronadl. Er hat die Erfahrung gemacht: „Die Patienten, die sich für eine Operation entscheiden, sind in der Regel super motiviert. Und sie setzen dank dieser Vorbereitung nach der OP das weiter fort, was sie vorher begonnen haben: Sie essen bewusster und bewegen sich mehr. Das wiederum wirkt wie ein positiver Verstärker.“ Am Krankenhaus Maria Hilf sollen Patienten auch dauerhaft einen Ansprechpartner finden. Deshalb gibt es dort eine Adipositas-Beratung und auch eine Selbsthilfegruppe.
Infos dazu gibt es unter: www.krankenhaus-brilon.de