Marsberg/Antakya. Nach dem Erdbeben in der Türkei ist die Heimat der Marsbergerin zerstört, Familienmitglieder vermisst. Die Angst vor weiteren Beben ist groß.
Sehnaz Avci spricht ruhig und bedächtig, und ringt doch um die richtigen Worte. „Den Menschen ist jede Lebensgrundlage genommen worden. Das ist nicht mit Worten zu beschreiben.“ Die Marsbergerin (36) ist in Deutschland geboren worden, hat noch Familie in Antakya, einer Stadt in Hatai – einer Region nahe der syrischen Grenze in der Türkei. Großeltern, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, sie leben noch dort. Auch die Familie ihres Mannes lebt in der Stadt mit rund 389.000 Einwohnern. Sehnaz Avcis Familie ist wohlauf. Der Cousin ihres Mannes, die Kinder, sind noch vermisst.
Erdbeben erschüttern die Heimatstadt einer Marsbergerin
Zwei Erdbeben haben am frühen Montagmorgen den Südosten der Türkei und die angrenzende Region in Syrien, in der insbesondere viele Kriegsflüchtlinge leben, erschüttert. Tausende Menschen sind ums Leben gekommen, noch immer versuchen Rettungsteams und die Menschen vor Ort, die unter den Trümmern liegenden Lebenden zu retten.
WP-Newsletter per Mail: Was ist los in Brilon, Olsberg, Marsberg, Winterberg, Medebach und Hallenberg? Holen Sie sich den Newsletter für Ihren täglichen Nachrichtenüberblick
Sehnaz Avci hat erst nichts von dem Beben in ihrer zweiten Heimat mitbekommen. Ihre Tochter sei in der Nacht von Sonntag auf Montag irgendwann um viertel nach zwei wachgeworden. „Ich habe mich um sie gekümmert, aber nicht auf mein Handy geschaut bis ich gegen sechs Uhr eine Nachricht meiner Freundin bekommen habe.“ In der steht: „Wie geht es Deiner Familie?“
Antakya ist der Geburtsort ihres Mannes, ein Teil der Familie wird noch vermisst
In Antakya, dem Geburtsort ihres Mannes und der Heimat ihrer Familie, hat das Erdbeben besonders schlimmen Schaden angerichtet. Häuser, Krankenhäuser, alles sei eingestürzt. „Wir sind Migrantenkinder und wie man weiß, fahren wir jedes Jahr in die Türkei um unsere Familien zu besuchen. Die Stadt ist mir genauso nah wie meine Heimat hier in Marsberg“, sagt Sehnaz Avci. Die alte Kirche, die sie so geliebt hat. Zerstört. Ganze Straßenfluchten. Kaum wiederzuerkennen.
Nach dem Erdbeben wartet Sehnaz Avci stundenlang auf Nachricht von ihrer Familie. Das Internet ist durch das Beben ausgefallen, Handys funktionieren nicht. Irgendwann meldet sich ihr Cousin. Mitten in der Nacht hat das Beben ihn überrascht. Zuerst rennt er zu seiner Tochter. Als das Beben aufhört, läuft die Familie auf Socken in die Nacht zum Haus der Mutter. Die Familie ist wohlauf. „Mittlerweile gibt es bestimmte Orte, an denen das Handy funktioniert, „verrückterweise an unserem Familiengrab. Mein Cousin läuft also immer dort hin um uns anzurufen.“ Ihr Mann hat noch nichts von seiner Familie gehört, nicht die Stimme seiner Mutter, die zwar unverletzt ist, sich aber nicht melden kann.
Die Marsberger können nur abwarten, helfen ist kaum möglich
Sehnaz Avci kann nur abwarten. Helfen ist kaum möglich. Vor ihren kleinen Kindern will sie nicht zuviel darüber sprechen, ihre Trauer nicht zeigen. „Man will es kaum wahrhaben“, sagt sie. Ihre Familie in der Türkei, in Antakya, sei wie paralysiert. Sie funktionieren, weil sie es müssen. „Um sie herum werden Leichen aus den Häusern gezogen, die Menschen schreien nach Hilfe“, sagt Sehnaz Avci. Ihre Familie lebt nun in Autos, in der Kälte, ohne Strom oder Wasser. Das Haus der Mutter sei einsturzgefährdet, zu gefährlich um es zu betreten.
Lesen Sie auch: Im Ranking: Welche HSK-Stadt stößt am meisten CO2 aus?
Lesen Sie auch: Der Windbauer aus Canstein uns sein Kampf um Gerechtigkeit
„Das Erdbeben ist vergleichbar mit einem Krieg. Es hat so viele Menschenleben gekostet“, sagt Sehnaz Avci. Dabei habe man immer damit gerechnet, dass Erdbeben diese Region erschüttern können. Die Erdbebengefahr sei ihnen stets bewusst gewesen. „Es wurde uns immer gesagt, dass das passieren kann. Wir haben sogar schon kleinere Erdbeben in der Stärke 2 oder 3 dort miterlebt“, erklärt Sehnaz Avci. Dennoch sei nie etwas getan worden.
Beben trifft eine arme Gegend, Hilfe erreicht die Menschen zu spät
Hatai sei eine arme Gegend, die Menschen dort haben nicht viel Geld. Viele gehen zum Arbeiten ins Ausland, können sich nur so leisten ein Haus dort zu bauen. Die Katastrophe trifft sie besonders hart, Hilfe erreicht die Menschen erst spät. Und die Angst bleibt, denn unter der Stadt sei nun eine Bruchlinie, in Antakya drohen weitere Beben. Sehnaz Avci kann derweil nur Zuhause sitzen, abwarten.
Die Marsbergerin wendet sich via Facebook an ihre Mitbürger. „Ich kenne die Marsberger, sie helfen wo sie können“, sagt sie. Sie bittet um Spenden, Geld oder Sachspenden. Mittlerweile wird eine Sammelstelle in Marsberg eingerichtet. „Ich weiß, gerade jetzt in der Krisenzeit ist es für viele nicht einfach, Geld zu spenden. Dennoch hoffe ich, dass jeder der es kann, Hilfe schickt“, sagt Sehnaz Avci. Sie rät dazu, an die Malteser zu spenden. Sie selbst habe für die Organisation gearbeitet, diese Spenden würden vor Ort ankommen. Sie selbst wolle insbesondere ihre Familie nun finanziell unterstützen, hat aber ebenfalls gespendet und sucht nun Sachspenden. „Babynahrung, Sondennahrung, Dosen, Kekse, Brötchen. Dort ist es sehr kalt, es regnet, schneit, stürmt. Die Menschen brauchen alles.“