Marsberg. Die Marsbergerin Claudia Linnenbrink öffnet ihr ehemaliges Elternhaus für ukrainische Flüchtlinge. Was dort entstanden ist, ist ganz besonders.

Claudia Linnenbrink sitzt im Esszimmer ihres Elternhauses. Um sie herum an dem Holztisch sechs Menschen, die sie ein Jahr zuvor noch nicht gekannt hat. Jetzt sagt sie: „Wir sind eine Familie geworden.“ Die Marsbergerin hat ihr ehemaliges Elternhaus für ukrainische Flüchtlinge geöffnet. Entstanden ist daraus eine kleine Gemeinschaft, die füreinander da ist. Die hilft und Hilfe annimmt, die sich beisteht und vor allem gemeinsam lacht.

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Elf Menschen ziehen zu Beginn in das Haus

Claudia Linnenbrinks Vater starb nur wenige Wochen vor dem Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine. Ihre Mutter ist in einem Pflegeheim untergebracht. „Mein Mann und ich wollten mein Elternhaus eigentlich verkaufen, vielleicht auch vermieten.“ Dann kam der 24. Februar 2022 und mit ihm die größte Flüchtlingsbewegung innerhalb Europas seit dem zweiten Weltkrieg. Verwaltungen riefen um Hilfe, Wohnraum war so gut wie kaum zu finden. „Wir lasen also, wie dringend Wohnraum benötigt wird und uns war klar, dass wir helfen wollen“, sagt Linnenbrink. Das Ehepaar meldet sich bei der Stadt, doch die Vermittlung läuft schleppend. Also meldet sich Claudia Linnenbrink bei zahlreichen Facebook-Gruppen an, bietet Wohnraum für die Menschen aus der Ukraine. Elf Menschen ziehen zu Beginn in das Haus. Manche von ihnen kehren wieder zurück. Manche bleiben.

Mittlerweile singt Svitlana im Chor, backt Kuchen für die Dorffeste

Svitlana (50) zum Beispiel. Große blaue Augen, Strickjacke fest um die Schultern gezogen. Sie spricht nur wenig deutsch und deutet auf das Handy in ihrer Hand. „Blah Blah“, sagt sie. Die anderen am Tisch lachen. Claudia Linnenbrink erklärt: „Wir nennen die Übersetzungsapp Blah Blah.“ Svitlana spricht in ihr Handy, langsam und bedächtig. Das Handy übersetzt. Sie kommt aus Kiew. In der Nacht auf den 24. Februar wacht Svitlana auf. Explosionen. In der Stadt. Ihr Mann und ihr Sohn sind bei ihr. „Es war sehr beängstigend“, sagt sie. Sie fliehen nach Uschgorod, eine Stadt in der Ukraine. Dort bleiben sie zwei Monate. Doch ihr Sohn fürchtet, in die Armee zu müssen. Er flieht als erstes, irgendwann folgt Svitlana ihm, landet in Köln, später in Padberg. „Die Padberger haben mich als Familie aufgenommen, sie haben mir alles gegeben, was ich gerade besitze. Es ist sehr schön hier“, sagt sie. Mittlerweile singt sie hier im Chor, backt Kuchen für die Dorffeste.

Die ganze deutsch-ukrainische Gemeinschaft rückt zusammen.
Die ganze deutsch-ukrainische Gemeinschaft rückt zusammen. © Privat

Claudia Linnenbrink nickt. Ja, die Padberger hätten viel gebracht. Kleidung und Decken, Geschirr und große Töpfe, Kleidung und Spielzeug, Tee und Nudeln. „Das ganze Dorf hat mitgearbeitet“, sagt Linnenbrink. Die Möbel in dem Haus stammen noch von ihren Eltern, jetzt nutzen die Ukrainer sie. Claudia Linnenbrink hilft dabei, Anträge auszufüllen, Behördengänge zu erledigen, Deutsch zu lernen. „Wir tun, was wir können“, sagt die Marsbergerin. Ihr Mann hilft ebenfalls, beide tun das neben ihrer Arbeit. Freiwillig.

Gleichaltrige Freunde oder Bekannte zu finden ist schwierig

Semen ist 26 Jahre alt. Er und seine Mutter Olena (53) sind nicht zusammen nach Deutschland gekommen. Semens Heimatort ist mittlerweile durch die Russen okkupiert. Als der Angriff vor fast einem Jahr seine Heimat trifft, nimmt er sich 24 Stunden Zeit. Analysiert die Nachrichten, spricht mit Familie und Freunden. „Es war eine harte Zeit, diese Entscheidung zu treffen, aber ich wollte nicht zur Armee“, sagt er. Irgendwann ist ihn klar: „Ich will die Ukraine verlassen.“ Er will nach Deutschland gehen, weil dort die besten Bedingungen für ihn herrschen würden. Er fürchtet sich davor, in die Armee zu müssen, an die Front, in den Kampf. Er lebt zuerst in einem Camp für Flüchtlinge in Berlin. Später kommen seine Mutter und seine Tante mit ihrem Sohn Vladyslav nach Marsberg. 19 Tage hat Olena in einem Luftschutzkeller gesessen, bis sie entscheiden, die Ukraine zu verlassen. Ihre Mutter ist noch dort. Sie kennen jemanden bei Marsberg, gehen dort hin, ziehen in das Elternhaus von Claudia Linnenbrink. „Wir haben sofort versucht, Semen herzuholen und haben es geschafft“, sagt Claudia Linnenbrink, die dafür Behörden und Verwaltungen angerufen hat. Jetzt lebt er in Padberg, das ehemalige Wohnzimmer wird zum Schlafzimmer für ihn. Das „Blah Blah“ braucht er nicht zur Übersetzung, er erzählt mehr als die Hälfte seiner Geschichte auf Deutsch, einen Teil auf Englisch. „Ich habe viel Zeit, die Sprache zu lernen“, sagt er. Gleichaltrige Freunde oder Bekannte zu finden, sei schwierig. Kontakt zu seinen Freunden in der Ukraine hat er noch. Im Sommer ist er mit den Linnenbrinks wandern gegangen, hat sich Padberg und die Umgebung angesehen. „Hier gibt es viele schöne Orte und wir können viele gute Gespräche führen“, sagt er.

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Die Linnenbrinks kümmern sich nicht nur um Behördengänge. Sie sind auch zum Reden da. Nehmen die Ukrainer mit auf Wandertouren im Sommer. „Jeden Samstag gehen wir zu ihnen, spielen etwas oder quatschen einfach“, sagt Claudia Linnenbrink. Zum Dank kochen Olena und Svitlana ein Silvesteressen für das Ehepaar. Auch den zweiten Weihnachtstag verbringen die Marsberger mit ihrer ukrainischen Familie, laden alle zum Kaffeetrinken ein. „Am 6. Januar haben wir mit Semen und Olena das orthodoxe Weihnachten gefeiert“, erzählt Claudia Linnenbrink.

Dankbarkeit ist groß

Viele aus der kleinen Gemeinschaft wollen nicht mehr zurück. Vladyslav (17) hat einen Platz am Berufskolleg in Olsberg. Seine Mutter, Olenas Schwester, ist wieder zurück in der Ukraine, um sich um ihre Mutter zu kümmern. „Ich telefoniere jeden Tag mit ihr, ich wünschte sie käme auch wieder zurück“, sagt er. Oder Tetiana (41), mit ihren Kindern Olga (10) und Abraham (5). Sie haben durch einen Bombenangriff auf ihre Wohnung alles verloren. Nicht mal ein zweites Paar Schuhe ist geblieben. „Wir sind Deutschland und den Linnenbrinks sehr dankbar“, lässt sie die Übersetzungsapp sprechen.

Aber wie groß ist das Heimweh nach der Heimat? Wie fühlt es sich an, die Nachrichten zu lesen, die Bilder zu sehen? Semen sagt ruhig: „Es war erst ein Schock. Jetzt gewöhnt man sich daran.“ Svitlana spricht in die App: „Wir empfinden Schmerz und unsere Seele ist bei ihnen. Ich fühle mich manchmal schuldig, dass ich hier ruhig lebe und dort Angst herrscht.“