Brilon. Bettina Lang verliert ihren Sohn durch Suizid und findet Halt in einer Selbsthilfegruppe. Samstag informiert sie dazu auf dem Marktplatz Brilon.
Suizid ist immer noch ein Tabu-Thema. Zum Welttag der Suizidprävention wird es am Samstag, 10. September, einen Infostand der Gruppe „Angehörige um Suizid“ (AGUS) und „Trees of Memory“ auf dem Marktplatz in Brilon geben. Suizid – ein schweres Thema. Und doch, oder gerade darum muss es in den Fokus bzw. die Mitte der Gesellschaft, findet Bettina Lang (58). Zum Welttag der Suizidprävention will sie von 8.30 bis 14.30 Uhr mit einem Infostand aufrütteln und aufklären. Wir haben im Vorfeld mit ihr gesprochen.
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Frau Lang, warum ist es so wichtig, über das Thema Suizid immer wieder zu informieren?
Bettina Lang: Jeder Suizid verursacht so viel Leid und jeder Suizid, der verhindert werden kann, ist immens wertvoll für alle, die Betroffenen wie für die Angehörigen und die Gesellschaft. Dabei ist eine bessere und flächendeckende Aufklärung und Akzeptanz von psychischen Erkrankungen, die in den meisten Fällen einem Suizid vorausgehen, von immenser Bedeutung. Diese Aufklärung kann und sollte schon in Schulen beginnen, um sensibler für die Thematik zu werden und Warnzeichen bei sich und anderen frühzeitig zu erkennen und dadurch im besten Fall offener für Hilfen zu sein.
Hier setzt auch der Verein ToM, Trees of Memory, an, über den Sie am Stand informieren.
Zurzeit erarbeiten wir vom Verein Trees of Memory ein Unterrichtskonzept für Schulen zum Thema mentale Gesundheit, Depressionen, Hilfen bei Suizidgedanken, etc. Dieses Konzept für drei Unterrichtsstunden kann dann von Mitgliedern von Trees of Memory in Schulen präsentiert und diskutiert werden. Trotz fast 10.000 Suiziden jährlich in Deutschland ist das Thema immer noch ein Tabu. Es gibt mindestens, wenn ich von nahen Angehörigen bzw. Zugehörigen ausgehe, sechs betroffene Hinterbliebene. Das sind jährlich ca. 60.000 Betroffene, ein ganzes Fußballstadion voll. Daran denke ich häufig, wenn ich Bundesligaspiele im Fernsehen sehe. Viele dieser Menschen brauchen Hilfe. Ich möchte informieren, wo es Ansprechpartner und Hilfsangebote gibt.
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Was erwartet Besucher am Infostand auf dem Briloner Marktplatz noch?
Am Infostand unterstützt mich die Soester Gruppenleiterin Isabell Finger. Wir legen Info-Flyer von AGUS und auch von Trees of Memory aus. Der letztgenannte Verein mit Sitz in Frankfurt unterstützt Suizidangehörige in Form von überregionalen ersten Anlaufstellen und ist gleichzeitig in der Suizidprävention tätig. Ein weiteres Projekt ist „Mario läuft“: Mario Dieringer pflanzt Bäume der Erinnerung für Suizidopfer, Angehörige und Personen mit Suizidgedanken inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Italien und anderen Ländern. Außerdem beantworten wir am Infostand Fragen zu Hilfsangeboten, Anlaufstellen, Gruppenangeboten, Selbsthilfegruppen und vielem mehr und sind offen für Anregungen und neue Ideen. Selbstverständlich freuen wir uns auch über Personen, die sich eine Mitarbeit in einem der Vereine vorstellen können.
Selbsthilfegruppe
Im Jahr 2013 wandte sich Bettina Lang selbst als Betroffene nach dem Suizid ihres Sohnes Alexander an die Arnsberger Gruppe von Angehörigen um Suizid (AGUS).
Seit 2017 ist sie dort Gruppenleiterin, inzwischen ist eine zweite Gruppe in Soest etabliert.
Bundesweit gibt es inzwischen über 80 AGUS-Selbsthilfegruppen.
Sie können auch von einem neuen Angebot berichten.
In Kürze wird der Leuchtturm Schwerte in dem ehemaligen AOK-Gebäude in Olsberg eine Anlaufstelle für Trauernde schaffen. Der Verein bietet Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und Familien als Gruppen- und Einzelangebote an. Auch vom Leuchtturm haben wir einige Flyer da und ein erstes Gespräch hat schon stattgefunden. Wieder ein neuer Baustein für das Netzwerk Trauer im Hochsauerlandkreis, ein Thema das häufig unterschätzt wird.
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Wie erleben Sie die Angehörigen nach einem Suizid innerhalb Ihrer Arbeit für AGUS? Was sind die häufigsten Fragestellungen und Themen?
Suizid als Todesursache ist so erschütternd, dass Hinterbliebene sich oft in einem Gefühls- und Gedankenchaos befinden. Es reicht von Verzweiflung über Schuldgefühle bis hin zu bodenloser Trauer, Scham, Wut und Sehnsucht. Deshalb ist es wichtig, wahrzunehmen: Ich bin nicht allein mit der Erfahrung von Suizid. Es tut gut, sich als Betroffene gegenseitig zu unterstützen und zu stärken. Wir können gemeinsam lernen, die Entscheidung des/der Verstorbenen zu respektieren. Und wir können lernen, dass das eigene Leben gut weitergehen darf.
Das Leben auf den Kopf gestellt
Ein Leben, das komplett auf den Kopf gestellt wurde.
Mit dem Tod durch Suizid verändert sich das ganze Leben der Angehörigen. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, alles scheint zerbrochen. Ohnmacht, Selbstzweifel, Schuldgefühle, Verlustängste und Orientierungslosigkeit u.v.m. überschatten alle Lebensbereiche, von denen man vorher überzeugt war, dass sie eigentlich soweit gut laufen. Wir versuchen gemeinsam, die Vergangenheit ein Stück aufzuarbeiten und falls erforderlich auch Infos zu psychiatrischer/psychologischer Begleitung zu geben. Wir können keine Therapie ersetzen, Angehörige können aber erfahren, dass aus Lebenskrisen neue Chancen erwachsen können und das Leben weiter geht, zwar ganz anders als vorher, aber es geht irgendwie weiter. Gleichzeitig gilt es, die Trauer leben zu können und dafür brauchen Angehörige Raum, Zeit und Geduld ebenso wie Rituale der Erinnerung. All dies hilft, um auch wirklich zu leben und nicht nur zu funktionieren.
Formen von Suizidprävention
Wie genau kann Suizidprävention aussehen?
Wie bereits erwähnt, muss sich aus meiner Sicht die Akzeptanz gegenüber psychisch Erkrankten in der Gesellschaft verändern, damit sich die Menschen auch trauen, diese Problematik anzusprechen und sich nicht verstecken. Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Erkrankungen nehmen gravierend zu, die Schnelllebigkeit in der Gesellschaft, hoher Leistungsdruck, anspruchsvolle und auch instabile Familienkonstellationen sowie das Gefühl, man muss dauerhaft erreichbar sein, sind meiner Ansicht nach, nur einige Gründe dafür. Jedes Engagement, jeder wache Blick zählt. Es gilt einfach, genau hinzusehen und hinzuhören, aufmerksam zu sein. Hier kann noch mehr geschult werden. Es gibt z.B. online Ersthelferkurse für psychische Erkrankungen, die meiner Meinung nach in jeder Schule, dann speziell auf Jugendliche bezogen, und in jedem Betrieb etc. Pflichtveranstaltungen werden sollten. Bei mir hat dieser Kurs noch mal einen ganz anderen Blick auf psychische Einschränkungen und deren Ursachen geworfen. Auch gibt es Alarmzeichen, die von der Deutschen Depressionshilfe zusammengestellt wurden. Auch die Robert-Enke-Stiftung ist sehr aktiv in der Suizidprävention und informiert in Fußballstadien etc. Hilfsangebote, auch rund um die Uhr, müssen noch mehr ausgebaut werden und das Thema Depression raus aus der gesellschaftlichen Tabuzone. Die Zusammenarbeit der Akteure untereinander kann verbessert werden. Wir wissen, dass nicht jeder, der einen Suizid plant, davon abgehalten werden kann, wir können in die Köpfe der Menschen nicht hineinschauen. Ein Psychiater hat mir mal gesagt: „Gerettet werden können nur diejenigen, die am Abgrund stehen und noch überlegen“, aber wenn nur einige wenige vielleicht doch noch die Kurve kriegen und sich Hilfe holen, ist schon viel erreicht.
Wir berichten in der Regel nicht über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Falls Sie Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Suizid-Gedanken hat, wenden Sie sich bitte an die Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222. Die Anrufe sind kostenlos, die Nummern sind rund um die Uhr zu erreichen. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet im Internet einen Selbsttest, Wissen und Adressen zum Thema Depression an. Im Online-Forum können sich Betroffene und Angehörige austauschen. Für Jugendliche gibt es ein eigenes Forum.